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Mantel, Hilary

Mantel, Hilary

Titel: Mantel, Hilary Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Woelffe
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einzelne Gestalt und keine Gesichter mehr, jetzt sind
sie eine feste, geballte Masse, ihr Fleisch ist darin zusammengedrängt und
stößt gegeneinander, sie haben eine dichte Beschaffenheit wie Wesen aus dem
Meer und kränkliche Gesichter, die wie unter Wasser schimmern.
    Er steht an einem Fenster und
hält Liz' Gebetbuch in der Hand. Seine Tochter Grace sah es sich gerne an, und
heute kann er die Berührung ihrer kleinen Finger unter seinen eigenen spüren.
Es sind die Stundengebete der Jungfrau Maria, die Seiten illuminiert mit einer
Taube, einer Vase mit Lilien. Das Offizium der Vigil, und Maria kniet auf einem
Boden mit Schachbrettmuster. Der Engel grüßt sie, seine Worte sind auf ein
Pergament geschrieben, das er in Händen hält; es wirkt, als sprächen seine
Handflächen. Seine Flügel sind farbig: himmelblau.
    Er blättert die Seite um. Das
Offizium der Laudes. Hier ein Bild von Maria Heimsuchung. Maria mit ihrem
hübschen kleinen Bauch wird von ihrer schwangeren Verwandten, der heiligen
Elisabeth, begrüßt. Ihre Stirnen sind hoch, die Augenbrauen gezupft, und sie
sehen so verwundert aus, wie sie es in der Tat sein sollten; eine von ihnen
ist Jungfrau, die andere schon älter. Frühlingsblumen wachsen zu ihren Füßen,
und beide tragen eine leichte Krone aus goldenem Draht, der so fein ist wie
blondes Haar.
    Er blättert eine Seite um.
Grace, lautlos und klein, blättert die Seite mit ihm um. Das Offizium der Prim.
Das Bild zeigt die Geburt Christi: Ein winziger weißer Jesus liegt in den
Falten des Umhangs seiner Mutter. Das Offizium der Sext: Die Heiligen Drei
Könige bieten juwelengeschmückte Becher dar; hinter ihnen liegt eine Stadt auf
einem Hügel, eine Stadt in Italien mit ihrem Glockenturm, ihrer Aussicht auf
ansteigendes Gelände und einer undeutlichen Baumreihe. Das Offizium der Non:
Josef trägt einen Korb voller Tauben zum Tempel. Das Offizium der Vesper: Ein
von Herodes gesendeter Dolch sticht säuberlich ein Loch in einen erschrockenen
Säugling. Eine Frau reißt die Hände im Protest oder im Gebet hoch: ihre beredten,
hilflosen Handflächen. Der Körper des Säuglings vergießt drei Tropfen Blut,
jeder geformt wie eine Träne. Jede dieser blutigen Tränen ist von einem klaren
Zinnoberrot.
    Er sieht auf. Wie eine
Nachwirkung bleibt das Bild der Tränen in seinen Augen, bis es verschwimmt. Er
blinzelt. Jemand kommt auf ihn zu. Es ist George Cavendish. Er reibt sich
nervös die Hände, sein Gesicht ist voller Besorgnis.
    Mach, dass er mich nicht
anspricht. Mach, dass George weitergeht.
    »Master Cromwell«, sagt er.
»Sie weinen ja. Weshalb? Gibt es schlechte Nachrichten unseren Herrn
betreffend?«
    Er versucht, Liz' Buch
zuzuschlagen, aber Cavendish streckt die Hand danach aus. »Ach, Sie beten.« Er
wirkt erstaunt.
    Cavendish kann nicht sehen,
wie die Finger seiner Tochter über die Seiten gleiten oder wie die Hände seiner
Frau das Buch halten. George betrachtet nur die Bilder; sie stehen auf dem
Kopf. Er atmet tief ein und sagt: »Thomas...?«
    »Ich weine um mich selbst«,
sagt er. »Ich werde alles verlieren, alles, wofür ich gearbeitet habe, mein
Leben lang, weil ich mit dem Kardinal untergehen werde — nein, George,
unterbrechen Sie mich nicht —, weil ich getan habe, worum er mich gebeten hat,
und weil ich sein Freund war und seine rechte Hand. Wenn ich bei meiner Arbeit
in der City geblieben wäre, anstatt durchs Land zu jagen und mir Feinde zu
machen, wäre ich ein reicher Mann - und Sie, George, Sie würde ich in mein
neues Landhaus einladen und um Ihren Rat zu Möbeln und Blumenbeeten bitten.
Aber sehen Sie mich an! Ich bin am Ende.«
    George versucht zu sprechen:
Er murmelt ein paar Trostworte vor sich hin.
    »Es sei denn«, sagt er. »Es
sei denn, George. Was glauben Sie? Ich habe den jungen Rafe nach Westminster
geschickt.«
    »Was soll er dort?«
    Aber er weint wieder. Die
Geister versammeln sich, er friert, seine Lage ist aussichtslos. In Italien hat
er eine Methode erlernt, sich Dinge zu merken, deshalb kann er sich an alles
erinnern: an jede Etappe, die ihn an diesen Punkt gebracht hat. »Ich denke«,
sagt er, »ich sollte ihm folgen.«
    »Bitte«, sagt Cavendish,
»nicht vor dem Abendessen.«
    »Nein?«
    »Weil wir darüber nachdenken
müssen, wie wir die Diener unseres Herrn bezahlen sollen.«
    Ein Moment vergeht. Er drückt
das Gebetbuch an sich; er hält es in den Armen. Cavendish hat ihm gegeben, was
er braucht: ein Buchhaltungsproblem. »George«, sagt er, »Sie

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