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Mantel, Hilary

Mantel, Hilary

Titel: Mantel, Hilary Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Woelffe
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Grace: Gnade. Wir können uns Gnade nicht verdienen. Wir verdienen
sie nicht.
    Er fragt den Priester, ob
seine ältere Tochter mit ihrem Schreibheft begraben werden kann, dem Heft, in
das sie ihren Namen geschrieben hat: Anne Cromwell. Der Priester sagt, so etwas
habe er noch nie gehört. Er ist zu müde und zu böse, um sich deswegen mit ihm
anzulegen.
    Seine Töchter sind jetzt im
Purgatorium, im Land des langsam brennenden Feuers und des zerfurchten Eises.
Wo ist in den Evangelien die Rede vom »Fegefeuer«?
    Tyndale schreibt: Nun bleiben
Glaube, Hoffnung und Liebe, alle drei; aber das Größte darunter ist die Liebe.
    Thomas More hält das Wort
»Liebe« für einen schlimmen Übersetzungsfehler. Er besteht auf
»Nächstenliebe«. Er würde dich für einen Übersetzungsfehler in Ketten legen
lassen. Er würde dich für ein anderes Verständnis des Griechischen töten.
    Er fragt sich noch einmal, ob
die Toten Übersetzer brauchen; vielleicht wissen sie durch eine einfache
Wendung im Moment des NichtWerdens alles, was sie wissen müssen.
    Tyndale sagt: »Die Liebe
vergeht nie.«
    Der Oktober kommt. Wolsey
leitet wie üblich die Zusammenkünfte des Kronrats. Aber am Anfang der
Herbstsitzungsperiode werden gerichtliche Verfügungen gegen den Kardinal
beantragt. Er wird angeklagt, weil er Erfolg hatte. Er wird angeklagt, weil er
Macht ausgeübt hat. Ausdrücklich wird er angeklagt, weil er im Reich des
Königs eine fremde Jurisdiktion geltend gemacht hat - soll heißen, er hat seine
Funktion als päpstlicher Legat wahrgenommen. Was sie damit sagen wollen, ist
das: Er ist alter
rex. Er
ist und war immer ein mächtigerer Herrscher als der König. Wenn es denn ein
Verbrechen ist, so ist er dessen schuldig.
    Jetzt betreten sie großspurig
York Place, der Herzog von Suffolk, der Herzog von Norfolk: die beiden großen
Peers mit Sitz im Oberhaus. Suffolk sieht mit seinem struppigen blonden Bart
aus wie ein Schwein in den Trüffeln; ein Mann mit kräftig roter Gesichtsfarbe,
fällt ihm ein, verursacht dem Lordkardinal immer Übelkeit. Norfolk wirkt
ängstlich, und als er die Besitztümer des Kardinals prüfend in die Hand nimmt,
ist klar, dass er erwartet, Wachsfiguren vorzufinden, vielleicht welche, die
ihn selbst darstellen, vielleicht welche, in die lange Nadeln gesteckt wurden.
Der Kardinal hat seine Kunststücke durch einen Pakt mit dem Teufel
bewerkstelligt; das ist seine unverrückbare Überzeugung.
    Er, Cromwell, schickt sie
fort. Sie kommen zurück. Sie kommen mit weiteren und umfassenderen Vollmachten
und besseren Unterschriften zurück, und sie bringen den Master of the Rolls mit. Sie nehmen dem
Lordkardinal das Großsiegel ab.
    Norfolk wirft ihm einen Seitenblick
zu und schenkt ihm ein flüchtiges Frettchenlächeln. Er weiß nicht, warum.
    »Kommen Sie zu mir«, sagt der
Herzog.
    »Warum, Mylord?«
    Norfolk presst verärgert die
Lippen zusammen. Er erklärt nie etwas. »Wann?«
    »Keine Eile«, sagt Norfolk.
»Kommen Sie, wenn sich Ihre Manieren gebessert haben.«
    Es ist der 19. Oktober 1529.
     
    Auf Gedeih und Verderb
    Allerheiligen 1529
     
    Halloween: Die Welt nässt und
blutet an ihren Rändern. Es ist die Zeit, in der die Listenführer des
Purgatoriums, seine Schreiber und Aufseher die Lebenden belauschen, wenn sie
für die Toten beten.
    In dieser Jahreszeit hielten
er und Liz mit ihrer Gemeinde die Vigilien. Sie beteten für Henry Wykys, ihren
Vater, für Liz' verstorbenen Mann, Thomas Williams, für Walter Cromwell und für
entfernte Cousins und Cousinen, für nahezu vergessene Namen, lang verstorbene
Halbschwestern und verlorene Stiefkinder.
    Letzte Nacht hat er die Vigil
alleine gehalten. Er lag wach, wünschte sich Liz zurück; er wartete darauf,
dass sie kommen und sich neben ihn legen würde. Es ist wahr, er ist in Esher
mit dem Kardinal, nicht zu Hause in Austin Friars. Aber, dachte er, sie wird
wissen, wie sie mich finden kann. Sie wird nach dem Kardinal suchen, Weihrauch
und Kerzenschein werden sie durch den Raum zwischen den Welten leiten. Wo der
Kardinal ist, da bin auch ich.
    Irgendwann war er wohl
eingeschlafen. Als Tageslicht hereinfiel, fühlte sich der Raum so leer an, dass
selbst er nicht mehr da zu sein schien.
     
    Allerheiligen: Der Schmerz
kommt in Wellen. Jetzt droht er ihn umzuwerfen. Er glaubt nicht, dass die
Toten zurückkommen, aber das hindert ihn nicht, die Berührung ihrer
Fingerspitzen, ihrer Flügelspitzen an seiner Schulter zu spüren. Seit letzter
Nacht haben sie keine

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