Mantelkinder
miteinander gelöst hatten, an ihre regelmäßig wiederkehrenden Wutanfälle, wenn er sich einmischte.
Keine Reaktion.
„Okay, Alte!“, verlegte er sich irgendwann auf die härtere Gangart und fasste sie fest unters Kinn. Einfach, weil ihm sonst nichts mehr einfiel. „Du machst mich ständig zur Sau, weil ich nie mit dir abspreche, was ich tue. Aber ich sag dir eins: Das hier ist auch nicht abgesprochen! Und wenn du willst, dass jetzt ich dich zur Sau mache — bitte, kannst du haben. Was glaubst du eigentlich, was Peter sagen würde, wenn er dich so sähe?“
Er wollte aufstehen, aber in dem Augenblick packten die eiskalten Finger seine Hand. Der Kopf hob sich, und Chris vergaß, Atem zu holen. Er hatte noch nie solch einen Blick gesehen: Wund, verletzt, tödlich getroffen und doch meilenweit weg.
„Wir waren nicht schnell genug“, flüsterte sie. „Wir waren einfach nicht schnell genug. Drei Kinder, Chris! Drei Kinder!“
„He, Ballmann! Denk an Ballmann. Der sitzt. Und das andere Schwein kriegen wir auch, verlass dich drauf!“ Chris rubbelte ihre blau gefrorenen Finger zwischen seinen Händen. Regen lief ihm in den Kragen, ließ ihn erschauern. „Aber dafür brauchen wir dich, zum Teufel!“
Er war nicht sicher, ob Susanne ihn verstanden hatte, trotzdem fuhr er fort: „Pass auf. Wir beide steigen einfach in meinen Wagen und sehen zu, dass wir ins Warme kommen. Einverstanden?“
Er richtete sich auf und zog sie hoch. Unsicher kam sie auf die Beine. Chris stützte sie und als sie einknickte, war Hellwein an der anderen Seite zur Stelle. Wie eine Puppe ließ sie sich in den Nissan setzen und anschnallen.
Als Chris die Beifahrertür von außen zudrückte, sah er Hellwein zweifelnd an. „Ich weiß nicht, ob wir das Richtige tun. Sie ist fertig.“
Hellwein sagte nichts. Aber sein Blick sprach Bände. Chris biss sich auf die Lippen. Letzte Woche noch hatte er den Korpsgeist der Polizei verflucht. Und jetzt spielte er selber eine tragende Rolle dabei. Er sah durch die Seitenscheibe auf die zusammengesunkene Gestalt.
„Also gut“, sagte er. „Sehen Sie zu, dass sie im Präsidium für ein paar Tage entschuldigt ist.“
„Was soll ich sagen, verdammt?“, fragte Hellwein verzweifelt. „Wenn das nächste Kind weg ist, kann sie nicht einfach …“
„Wie wär´s mit Brechdurchfall?“, unterbrach Chris ihn und ging um seinen Wagen herum.
Als er im Auto saß, fiel ihm etwas ein. Er stieg wieder aus und suchte in den Tiefen seines Mantels nach dem Handy. Aber das schlummerte selig auf dem Schreibtisch im Büro.
„Kann ich mal eben Ihr Telefon haben?“
„Ist ´ne gute Idee! Brechdurchfall, meine ich.“ Hellwein reichte ihm den Apparat.
Zuerst versuchte er es im Labor. Nichts. Dann im Fotoladen. Aber Achim sagte ihm, Karin wäre nach Hause gefahren. Also wählte er seine eigene Nummer und bekam endlich eine ziemlich gehetzt klingende Karin ans Ohr.
„Na, wo hab ich dich denn hergeholt?“
„Gerade reingekommen. Und du? Klingt so, als wärst du in einem Bienenstock oder so.“
„Innenstadt“, antwortete Chris lachend. „Hör zu: Kannst du deine göttliche Hühnerbrühe kochen?“
„Äh — ja. Aber …“
Er erklärte kurz, was los war.
„Verflucht“, murmelte Karin. „Pass auf! Fahr zu mir. Da können wir sie wenigstens ins Gästebett packen. Wir treffen uns da.“
Karin Berndorf, pragmatisch wie immer. In Ermangelung einer weiteren Schlafgelegenheit, hätten sie Susanne in seiner Wohnung nur auf die Couch im Wohnzimmer packen können.
Als Chris das Handy zurückgab, lief Hellwein rot an. „Kann ich … ich meine … ich würde gern … später …“
„Wir sind bei Frau Berndorf“, half Chris ihm und wunderte sich über Hellweins Verlegenheit. Aber wahrscheinlich war es gar nicht so einfach zuzugeben, dass man sich um die „eisige Braun“ Sorgen machte. „Kommen Sie, wann immer Sie wollen.“
Chris stellte Heizung und Gebläse auf die höchste Stufe, trotzdem beschlugen die Scheiben. An jeder Ampel musste er ein Tuch zu Hilfe nehmen. Und immer wieder warf er einen besorgten Blick nach rechts. Susanne rührte sich nicht, saß einfach mit geschlossenen Augen und ausdruckslosem Gesicht da. Aus ihrem wirren Haar tropfte es.
Er konnte sein Glück kaum fassen, denn direkt vor Karins Haus war ein Parkplatz. Als er Susanne aus dem Wagen half, wurde aus dem Regen mit einem Mal Schnee. Das fehlte jetzt noch. Hoffentlich war Karin hier, bevor es glatt wurde.
Willenlos ließ
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