Mantelkinder
gewusst hat. Wenn er jedoch alle zwei Wochen aufs Neue zuschlägt …“
„Er tanzt uns auf der Nase rum“, knurrte Schneider aus der letzten Reihe dazwischen. „Und das hasse ich!“
„Hat sich schon mal jemand überlegt, ob die Familien wirklich etwas miteinander zu tun haben müssen?“, fragte Hellwein, ohne auf Schneiders Kommentar einzugehen.
„Sie meinen, er sieht ein blondes Mädchen. Irgendeins. Er spricht es an und es geht mit ihm?“ Breitner schüttelte abwehrend den Kopf. „Einfach so? Niemandem fällt etwas auf und heute gelingt ihm das zum zweiten Mal?“
„Wir wissen noch nicht, was mit Sonja passiert ist.“
Sie sah Hellwein streng an. Natürlich wussten sie es. Alle Welt wusste es. Aber bevor ihr Leichnam nicht gefunden war, konnten sie nichts anderes tun, als die laufende Ermittlung vorantreiben.
Vorantreiben, dachte er bitter. Wie denn? Womit denn?
Breitner stand seufzend auf und strich sich den wie immer dunkelblauen Rock glatt. „Ich muss die Presse füttern, bevor die Redaktionsschluss haben. Dann können sie wenigstens morgen schon über uns herfallen.“
Die Versammlung löste sich schnell auf und Hellwein ging ein Stück hinter Breitner, die auf die Treppe zusteuerte. Ihre Nylons hatten eine Laufmasche, ein heller Strich, der in der rechten Kniekehle anfing und sich in den Pumps verlor. Das kam bei der überaus korrekten Staatsanwältin eigentlich nicht vor und Hellwein wertete es als weiteres Zeichen ihrer Erschöpfung.
Er bog in sein Büro ab und schloss sich ein. Lange blieb er einfach sitzen und sah auf Susannes verwaisten Schreibtisch.
Angst stieg in ihm hoch und schien sich hinter der Stirn festzusetzen. Jedenfalls hatte er plötzlich Kopfschmerzen. Er fürchtete sich vor einer weiteren Kinderleiche, vor Montag oder Dienstag. Spätestens Dienstag würde man Susanne wieder im Präsidium erwarten. Was, wenn sie dazu nicht fähig war? Wenn ein wohlmeinender Seelenklempner sie für Monate aus dem Verkehr zog? Wenn sie gar nicht mehr in der Lage war, ihren Job zu machen?
Sein Telefon klingelte. Er kümmerte sich nicht darum.
Hätte er es nicht merken müssen? Hätte er nicht erkennen müssen, dass sie am Ende war? Dass sie sich jeden Schuh persönlich anzog? Die Hilflosigkeit, die sie alle empfanden, weil sie keinen Schritt weiterkamen; die ätzenden Kommentare der Presse; Bürger, die massenweise Beschimpfungen über die Hotline abließen; der zunehmende Druck, der auf Breitner lastete; die glühenden Kohlen, auf denen Maurer saß; Claudia, deren qualvolles Ende weitere Verbrechen nach sich zog.
All das hatte Susanne sich auf die Schultern geladen — und er hatte es nicht gesehen. Weil er zu sehr mit sich selbst beschäftigt war. Er war ein schlechter Polizist, wenn er nicht mal mitbekam, was in seiner nächsten Umgebung vor sich ging. Und ein noch schlechterer Teampartner.
Wie sollte es jetzt weitergehen? „Wir waren nicht schnell genug“, hatte sie gesagt. Nein, natürlich nicht. Bei den meisten Mordermittlungen ging es nur die ersten Tage um Schnelligkeit. Da musste man Spuren sichern, ehe sie von äußeren Einflüssen zerstört wurden, die noch frischen Erinnerungen von Zeugen nutzen. Wenn man damit keinen Erfolg hatte, zog es sich meistens in die Länge, weil es oft nur wenige Puzzleteile gab, die nicht zusammenpassten. Wahrscheinlich hatte Susanne die ganze Zeit über schon geahnt, dass Annika nicht das letzte Opfer sein würde. Und als es jetzt soweit war …
Der Druck hinter seiner Stirn verstärkte sich noch, als er sich endlich eingestand, dass er seine Vorgesetzte wirklich mochte. Dass er schon lange die Frau hinter der Fassade der „eisigen Braun“ sah. Dass sich bei ihrem gemeinsamen Frühstück und bei der Auseinandersetzung am Tag zuvor etwas in ihm geregt hatte, das über kollegiale Sympathie hinausging.
Er kramte in seiner Schreibtischschublade nach einer Packung Aspirin. Das half natürlich nicht gegen die so neuen und verwirrenden Gefühle in ihm, aber vielleicht wurde er seine Kopfschmerzen wieder los.
Es war nach zehn abends, als er in dem Haus am Klettenbergpark klingelte.
Karin öffnete ihm. Sie stützte sich schwer auf ihre roten Krücken und musterte ihn kritisch. „Sie sehen aus, als wären Sie der nächste, der Hühnerbrühe braucht“, knurrte sie, als sie ihn vorbeiließ. „Haben Sie was gegessen?“
„Eben ´ne Pizza“, log er. Seit heute Nachmittag war sein Magen wie zugekleistert. Er hätte keinen Bissen runterbringen
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