Mantelkinder
wirkte. Und wenn nicht?
Karin räusperte sich und er fuhr erschrocken herum. Ob sie schon länger da in der Küchentür stand? Sie hielt zwei Kaffeebecher zwischen Finger und Krückengriffen geklemmt.
„Sie braucht einen Nervenarzt und ein paar Glückspillen, Chris.“
„Oder einfach nur eine Mütze voll Schlaf und etwas Nahrhaftes in den Bauch. Ich wette, sie hat in der letzten Zeit kaum ihr Bett gesehen und ans Essen keinen Gedanken verschwendet.“
Karin murmelte etwas Unverständliches, während er die Kanne und Milch aus der Küche holte.
Erst als sie sich gegenübersaßen und heißen Dampf über den Rand der Kaffeebecher pusteten, fragte Karin: „Was ist mit dem Kind?“
Chris zuckte die Schultern. „Hellwein hat nur gesagt, dass wieder ein Kind vermisst gemeldet wurde.“
Sie sahen gleichzeitig auf die Uhr.
„Glaubst du an Wunder?“, fragte sie heiser.
********
Hellwein hatte keinen blassen Schimmer, wie er zurück ins Präsidium gekommen war. Die ganze Zeit über hatte er immer nur Susanne vor Augen. Wie sie da saß, wie sie von einer Sekunde zur anderen einfach nicht mehr anwesend war. Er wusste nicht, ob seine Entscheidung richtig gewesen war. Ob er statt Doktor Sprenger nicht doch besser einen Arzt gerufen hätte. Eins aber war so sicher wie das Amen in der Kirche: Letzteres hätte Susanne ihm nie verziehen.
Erst als er im Präsidium auf den Aufzug wartete — er hatte nicht mehr die Kraft, die Treppen zu bewältigen — fiel ihm auf, dass er sich mit dem Anruf bei Doktor Sprenger der Verantwortung entzogen hatte. Wenn der sich vielleicht doch noch für einen Arzt entschied, konnte Hellwein seine Hände in Unschuld waschen.
„Du bist ein Arschloch, Heinz!“, brummte er, während sich die silbrig glänzenden Aufzugtüren öffneten.
Maurer fing ihn gleich vor dem Büro ab. In seinem dunkelblauen Anzug mit Schulterpolstern und seiner ganz offensichtlichen Übellaunigkeit wirkte er noch imposanter als sonst. „Wo treiben Sie sich rum, Mann?“, polterte er los. „Wo ist Frau Braun?“
Hellwein wurde feuerrot. „Ich … äh … tut mir Leid, Herr Kriminaldirektor. Ich … musste sie nach Hause bringen … Schätze, Magen-und Darmgrippe.“
„Oh!“ Maurer wich entsetzt zwei Schritte zurück. „Nicht, dass Sie auch … Sie fühlen sich gut?“
„Bestens!“ Maurers Reaktion gab Hellwein seine Sicherheit zurück. Es schien zu funktionieren.
„Halten Sie sich bloß von ihr fern!“, schnappte Maurer. „Fehlt noch, dass Sie uns hier alle anstecken!“
Die Wirkung war immer die gleiche. Wem auch immer Hellwein die Magen-und Darmgrippe auftischte, trat erschrocken ein, zwei Schritte zurück.
Nur Marlene Breitner setzte sich völlig unbeeindruckt neben ihn, als sie sich kurz darauf zur Lagebesprechung trafen. In dem Zimmer, in dem sich die SOKO Claudia seit nun fast vier Wochen regelmäßig versammelte, schien es noch stiller zu sein als gewöhnlich. Hellwein sah in dreißig niedergeschlagene Gesichter. Da war nichts mehr von Motivation oder auch Wut zu sehen, sondern nur noch Verzweiflung. Sie gaben alle ihr Bestes — und es reichte trotzdem nicht.
Breitner berichtete knapp und präzise wie immer. Sonja Böhm, acht Jahre alt. Blonde Locken und ihrem Alter weit voraus. Wie Claudia. Wie Annika. Sie wohnte mit ihrer Mutter an der Gleueler Straße und besuchte die 3. Klasse der Grundschule Bachemer Straße. Sabine Böhm hatte ihre Tochter um 13 Uhr zum Essen erwartet und war gegen 14 Uhr voller Sorge zur Schule gegangen. Nach einigem Hin und Her im Sekretariat trieb man schließlich Sonjas Klassenlehrerin auf, die sich längst im wohlverdienten Wochenende befand. Als Sabine Böhm von ihr erfuhr, dass Sonja überhaupt nicht zum Unterricht erschienen war, hatte sie noch von der Schule aus die Polizei gerufen.
„Wir suchen natürlich mit allen verfügbaren Kräften“, schloss Breitner, während sie ein Foto von Sonja an die Pinnwand heftete. „Aber machen wir uns nichts vor. Wir wissen, was uns erwartet.“
Sie warf ihre Lesebrille auf den Tisch und legte Daumen und Zeigefinger an die Nasenwurzel. Eine Geste, die so viel Müdigkeit und Resignation ausdrückte, dass Hellwein überrascht aufblickte, denn normalerweise ließ die Staatsanwältin sich kaum je anmerken, was in ihr vorging.
„Unser einziges Problem ist die Zeit“, stellte Hansen fest. „Früher oder später würden wir die Verbindung zwischen den Familien finden. Wir würden rauskriegen wer von der Kerze
Weitere Kostenlose Bücher