Mantelkinder
immer.
Chris wagte nicht, sich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Er wagte überhaupt nichts zu sagen. Karin schien es ähnlich zu gehen. Sie starrte Susanne nur an, und vielleicht dachte sie darüber nach, sich ihre Hühnerbrühe patentieren zu lassen.
„Was ist?“ Susanne sah von einem zum anderen. „Hat euch was die Sprache verschlagen? — Kann ich duschen?“
„Deine … Sachen sind trocken“, brachte Chris heraus.
„Fein.“ Sie stand auf und schlenderte zur Tür. Eine Hand an der Hose, in der anderen die Zigarette.
Sie war schon im Flur, als sie sich nochmal umdrehte. „Ach ja: Ich zahl die Übernachtungen hier in Naturalien und lad euch zum Essen ein.“
Susanne Brauns Art, „Danke“ zu sagen.
Dienstag, 4. Dezember
Susanne kaute angewidert auf dem Müsli-Milch-Gemisch herum, das in ihrem Mund immer weiter aufzuquellen schien. In der Schüssel vor ihr schwammen undefinierbare Körner und Trockenfrüchte, die Mohnsamen obenauf sahen aus wie Fliegenschisse. Tapfer nahm sie noch einen Löffel. Dann schob sie den Napf zur Seite und zog den Aschenbecher heran.
Sie hatte sich zwar wieder einmal vorgenommen, besser mit sich umzugehen, aber am frühen Morgen brachte sie nun mal keinen Bissen runter. Schon seit Jahren bestand ihr Frühstück aus Kaffee und Zigaretten, und sie bezweifelte, dass nach Pappe schmeckendes Müsli sie vor dem nächsten Zusammenbruch retten würde. Dazu gehörte sicher mehr.
Teufel auch! Von dem Moment an, als Maurer anrief, bis zum Sonntagnachmittag waren ihre Erinnerungen wie trübe Nebelsuppe. Wenn ihr das im Präsidium passiert wäre! Oder mit einem anderen Kollegen. Oder wenn es Chris und Karin nicht gegeben hätte.
Die beiden hatten kein Wort darüber verloren. Sie redeten auch nicht über den Fall, als sie Sonntagabend essen waren. Sie vermieden alle drei krampfhaft, über tote Kinder zu reden.
Erst als Chris sie später nach Hause fuhr, fragte er: „Gehst du morgen wieder ins Präsidium?“
„Klar.“
„Offiziell hattest du Dünnschiss“, erklärte er, und für das Grinsen dabei hätte sie ihn erwürgen können.
Prompt war sie am Montag natürlich jeder Menge Fragen über den Zustand ihrer Eingeweide ausgesetzt, ehe sie sich mit den Akten „Claudia Seibold“ und „Annika Klausen“ im Büro verkroch. Am Abend wusste sie mit Gewissheit: Es gab nichts, rein gar nichts, was sie sich hätten vorwerfen müssen. Sie alle hatten einen guten Job gemacht. Und sie könnten weiterhin einen guten Job machen, wenn Sonja Böhm nicht wäre. Wenn sie jetzt nicht annehmen müssten, dass dieser Irre sich alle zwei Wochen ein Kind griff. Ob es sinnvoll war, noch mehr Beamte einzusetzen, um endlich das Fädchen zu finden, das die drei Kinder miteinander verband? Konnte Maurer bei der dünnen Personaldecke überhaupt noch mehr Leute abstellen?
Das Schrillen des Telefons riss sie aus ihren Gedanken. Auf dem Display wurde Hellweins Nummer angezeigt und die Härchen auf ihren Unterarmen stellten sich auf. Wenn er um diese Zeit anrief, bedeutete das selten etwas Gutes.
„Kinderleiche am Karlscheurer Weiher“, sagte er denn auch ohne Begrüßung. „Ich hol dich in zwanzig Minuten ab.“
Susanne war völlig ruhig, als sie mit Hellwein zum Fundort fuhr. Sie fragte sich auch nicht, ob es sich tatsächlich um Sonja handelte, sie wusste es einfach.
Hellwein überquerte einen Parkplatz mit Kopfsteinpflaster und bog auf der anderen Seite in eine schmale Straße ein. Sie führte an dem kleinen Weiher vorbei zu mehreren Kleingartenanlagen, die regelrecht umzingelt waren von der A1, zwei Auffahrten und dem Containerbahnhof. Jeder, der zu seinem Garten wollte, musste hier vorbei, und Susanne dachte mit Grauen daran, dass sie also mehrere Hundert Pächter würden befragen müssen. Andererseits: Welcher Hobbygärtner war um diese Jahreszeit schon auf seiner Scholle?
Hellwein ließ sich von einem uniformierten Beamten einweisen und hielt auf dem Seitenstreifen hinter dem Wagen der Spurensicherung. Beinahe das ganze östliche Ufer war mit rot-weißem Absperrband umgeben. Etwa in der Mitte suchte ein Dutzend weiß gekleidete Gestalten den Boden ab.
Als Hellwein aussteigen wollte, legte Susanne ihm die Hand auf den Arm. Sie sah ihn nicht an, als sie „Danke“ sagte.
„Wofür?“, brummte er.
„Für den Dünnschiss.“
„Das war Doktor Sprengers Idee“, murmelte er und wurde rot.
„Und wessen Idee war Doktor Sprenger?“
Hellweins Gesicht wurde purpurn. „Ich … ich
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