Mantelkinder
egal um welche Uhrzeit.
Chris wartete bei seinem Wagen auf Susanne. Nach einer Weile kam sie aus dem Haus und lehnte sich erschöpft neben ihm an die Motorhaube. Schweigend zündete Chris zwei Zigaretten an und reichte ihr eine.
Erst nachdem sie ein paar Züge geraucht hatten, fragte er: „Und?“
„Keine Ahnung, ob er alles mitbekommen hat. Er sitzt nur da und starrt aus dem Fenster.“ Sie schüttelte den Kopf. „Chris! Ich kann ihn nicht zwingen, aber die brauchen Hilfe von außen.“
„Ich weiß. Aber du hast ja gehört, was er gesagt hat.“ Seibold hatte jedes Angebot von Chris abgeblockt. Er wollte niemanden vom Weißen Ring, keinen Psychologen und schon gar keinen Notfallseelsorger.
„Red nochmal mit ihm“, verlangte Susanne. „Vielleicht sieht er das ja in ein oder zwei Tagen anders.“
Als er nach Hause kam, war er so erschöpft, als hätte er acht Stunden bei Gericht verbracht.
Er ersparte Karin die Einzelheiten, wie Claudia gestorben war, obwohl gerade dies sich tief in sein Herz gegraben hatte. Die Fotos, die Erklärungen von Susanne, ihre brüchige Stimme dabei. Was er Karin nicht ersparte, waren die Szenen in der Wohnung der Seibolds.
Er lag dabei auf der schmalen Couch, den Kopf in Karins Schoß gebettet und balancierte ein Whiskyglas auf dem Bauch, das Karin jetzt schon zum dritten Mal nachfüllte. Aber trotz Alkohol und den leisen Klängen der Meditationsmusik, die durch das Wohnzimmer perlten, wollte sich in ihm keine Entspannung einstellen.
„Ich hoffe, sie geben die Leiche am Donnerstag frei“, beendete er jetzt seinen Rapport. „Je schneller, desto besser. Vielleicht hilft es ihnen, wenn sie sie begraben können.“
„Du übernimmst das Mandat also?“ Karins Daumen massierte sanft sein „drittes Auge“ in der kleinen Kuhle zwischen Brauen und Nasenwurzel. Ganz langsam kam die Entspannung nun doch.
„Das hab ich ja eigentlich schon getan, als ich ins Präsidium gefahren bin, oder?“ Er richtete sich auf und schwang die Beine auf den Teppichboden, ehe er heftig hinzusetzte. „Herrgott, Karin! Das war eine Bestie! Was er dem Kind angetan hat…“
Der Klumpen, der seit dem Mittag in seinem Magen zu sitzen schien, wuchs noch einmal an. Das verhärmte Gesicht von Wolfgang Seibold stand wieder vor seinen Augen. Die Fotos. Das kleine Gesicht, das Stahlseil. Der magere Körper mit dem typischen Y-Schnitt, damit der Rechtsmediziner die inneren Organe entnehmen und untersuchen konnte. Der winzige Unterleib … An dieser Stelle blockierte sein Gehirn.
Chris sprang abrupt von der Couch, stopfte die Hände in die Hosentaschen und begann eine Wanderung an Karins imposanten Bücherregalen entlang. Von den Klassikern zu den historischen Schinken, über die Krimis zu den wohlsortierten CDs und zurück. Schließlich drückte er einen Knopf an der Stereoanlage und die Musik verstummte.
Seine Arbeit bestand in der Hauptsache darin, die kleinen Lichter dieser Stadt zu vertreten. Prostituierte, die zu oft im Sperrbezirk aufgegriffen wurden, Dealer, die nur Drogen verkauften, um ihre eigene Sucht zu finanzieren, Jungs, die außer Diebstahl nichts „gelernt“ hatten. Sicher, manchmal gab es solche Geschichten wie „Ehefrau ersticht gewalttätigen Ehemann“ oder „Freund erwürgt untreue Freundin“. Er hatte auch Erfahrungen als Vertreter der Nebenklage. Aber gegen einen Kindermörder? Gegen ein Ungeheuer, das sich offenbar akribisch darauf vorbereitet hatte, ein sechsjähriges Kind zu schänden und zu ermorden? Wieso sonst hätte er ein Stahlseil dabeigehabt, eine Plastikschnur, um das Opfer festzubinden, Klebeband für den Mund … und eine Kerze, eine verdammte blaue Kerze.
Niemals würde er sich abgrenzen können, konnte es ja jetzt schon nicht. Und damit war er ein schlechter Nebenkläger. Wie sollte er vor Gericht sachlich und nüchtern bleiben, präzise Formulierungen finden, wenn er vor Claudias Mörder stand und ihn am liebsten kastrieren würde?
Oh ja, er hatte all die leidenschaftlichen Diskussionen verfolgt, die seit Jahren über den Umgang mit Sexualstraftätern geführt wurden. War den gängigen Stammtischparolen, die von „lebenslang“ bis zu „Kopf ab“ lauteten, mit juristischen Argumenten entgegengetreten, hatte von Menschenrechten und Resozialisierung gefaselt. Es war leicht, über Verfassungsrechte und Menschenwürde zu reden — so lange, bis es einen selber traf.
Er spürte plötzlich die Kieselaugen, die jede seiner Bewegungen verfolgten. Und
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