Mantelkinder
anscheinend auch seine Gedanken.
„Todesstrafe, Herr Anwalt?“, fragte Karin nämlich ruhig.
„Verdammt, Liebes! Was kriegt er denn, wenn sie ihn fassen? Ein guter Anwalt macht auf verminderte Schuldfähigkeit, und er wird nach ein paar Jahren Therapie wieder auf die Menschheit losgelassen. Wenn ihm ein Gutachter eine halbwegs positive Prognose erstellt, werden sie noch nicht mal Sicherungsverwahrung aussprechen. Und ich soll den Seibolds erklären, dass das Urteil im Sinne unseres Rechtsstaats in Ordnung geht?“
Chris stierte auf die breiten Rücken einer Schiller-Gesamtausgabe und versuchte, die Bilder des mit Blut und Dreck verschmierten Kindes aus dem Kopf zu bekommen. Susannes Worte über Frakturen und punktförmige Blutungen.
Mühsam zog Karin sich an ihren Krücken hoch, ging zu ihm und lehnte eine Krücke an das Regal. Sie musterte ihren Freund, der immer noch auf die Bücher starrte, eine ganze Weile.
„Chris“, begann sie dann und wartete, bis nicht mehr der Schiller, sondern sie seine gesammelte Aufmerksamkeit bekam.
Als er sich endlich herumdrehte, zog Karin ihn mit dem freien Arm zu sich heran, ehe sie fortfuhr: „Du kannst die Welt nicht ändern. Aber du kannst versuchen, den Seibolds und Claudia ein wenig Würde und Gerechtigkeit zu verschaffen.“
„Und warum willst du, dass ausgerechnet ich das tue?“, fragte Chris. Es hatte etwas Tröstliches, seinen Kopf an ihre Schulter zu lehnen.
Es dauerte eine Weile, ehe Karin antwortete: „Weil ich mir die ganze Zeit vorstelle, wie wir uns fühlen würden, wenn es Frauke gewesen wäre.“
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Es war nach zehn, als Susanne die Wohnungstür hinter sich schloss. Sie schaltete nur die kleine Stehlampe neben der Couch an und schleuderte die Schuhe von den geschwollenen Füßen, ehe sie eine Dose Bier aus dem Kühlschrank holte und sich im Schneidersitz auf das Sofa hockte. Unter ihr knackte eine Sprungfeder. Als sie die Dose öffnete, quoll Schaum heraus und tropfte auf den Boden. Sie achtete nicht weiter darauf und nahm einen großen Schluck. Der Teppich war so alt und abgenutzt, dass es auf ein wenig Bier auch nicht mehr ankam.
Susanne legte den Kopf auf die Rückenlehne und starrte zu dem hellen Rechteck, das die Lampe an die Decke warf. Hatte sie alles bedacht? Nichts vergessen? Es gab so viele Ermittlungsansätze, dass sie eigentlich noch mehr Leute anfordern müsste — wenn denn Personal zur Verfügung gestanden hätte. Schon die Überprüfung der einschlägig Vorbestraften, die ihren Wohnsitz im Raum Köln hatten, war eine Mammutaufgabe. Und sie brauchten die Alibis aller Männer, die Claudia gekannt hatten. Von wirklich allen. Das fing bei Verwandten und Freunden der Seibolds an und hörte beim Verkäufer im Supermarkt auf. Sie mussten den Roller suchen, den Rucksack. Wer hatte das Kind gesehen, nachdem es vom Kiosk weggefahren war?
Hier setzte sie auf Hinweise aus der Bevölkerung, für die eigens eine Telefonhotline eingerichtet worden war. Allein den ernstzunehmenden Tipps nachzugehen, würde natürlich jede Menge Personal binden. Aber die Statistik bewies, dass sich gerade dabei oft erfolgversprechende Spuren ergaben. Eine auf den ersten Blick nebensächlich wirkende Beobachtung, der sie nachgingen — und „Kommissar Zufall“ machte einen brillanten Job.
Aber Susanne gab sich keinen Illusionen hin. Falls sich keine heiße Spur herauskristallisierte, würde es Wochen, wenn nicht Monate dauern und viel Geduld brauchen, all diese Daten abzugleichen. Und Geduld war nicht unbedingt ihre Stärke. Es gehörte auch nicht zu ihren Stärken, die Berge von Protokollen, die auflaufen würden, zu sichten und nach brauchbarem Material zu durchforsten. Sie sah sich in erster Linie immer noch als Ermittlerin und nicht als Verwalterin dieses Falles. Deshalb hatte sie dafür Klippstein und Müller eingespannt. Neben anderen Aufgaben würden sie die Berichte filtern und ihr und Hellwein — hoffentlich —Luft verschaffen, um selbst aktiv bleiben zu können.
Hätte Maurer sich doch jemand anderen gesucht, der diese Untersuchung leitete! Wäre sie doch im Urlaub gewesen, krank, auf dem Mond. Dieser Fall machte ihr jetzt schon mehr zu schaffen als jeder andere, mit dem sie bisher zu tun gehabt hatte. Wie das Mädchen da am Baum gelehnt hatte, nackt, verdreckt, mit erstarrtem Gesichtchen.
Gott sei Dank hatte Maurer es persönlich übernommen, den Seibolds die Todesnachricht zu überbringen, denn sie hätte es nicht gekonnt. Aber am
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