Mantelkinder
späten Sonntagabend musste sie mit Wolfgang Seibold in die Rechtsmedizin fahren, damit er seine Tochter identifizierte. Susanne war gar nicht mit in den schmucklosen Raum gegangen, der für solche Fälle vorgesehen war. Und als sie sah, dass Seibold danach so fertig war, dass Hellwein und der Polizeipsychologe ihn fast nach draußen tragen mussten, verdrückte sie sich zehn Minuten in den Waschraum, damit niemand ihre roten Augen sah. Auch die erste Obduktion, bei der der ermittelnde Beamte eigentlich anwesend sein sollte, delegierte sie unter einem Vorwand an Klippstein.
Dann kam jedoch das erste Gespräch mit den Eltern. Davor konnte sie sich nun wirklich nicht mehr drücken. Es war immer eine heikle Angelegenheit, nahe Angehörige zu vernehmen. Man musste behutsam sein und trotzdem wichtige Informationen sammeln. Die Befragung von betroffenen Eltern war natürlich noch schwieriger, und da kamen die Informationen erst an zweiter Stelle. So war es auch am Sonntag gewesen. Monika Seibold erlitt noch in der Nacht einen Zusammenbruch und wurde von einem Arzt ruhiggestellt. Bei Wolfgang Seibold löste beinahe jede Frage einen Weinkrampf aus. Und Susanne fragte sich im Stillen, was sie da eigentlich tat. Sie quälte diesen verzweifelten Mann, um einen Mörder zu finden. Aber was half es ihm, wenn es ihr gelänge? Keine Macht der Welt konnte ihm seine Tochter zurückbringen.
Susanne trank die Dose leer und holte gleich eine neue. Das zischende Geräusch, als sie den Deckel öffnete, beruhigte sie etwas. Sie wühlte in einem Stapel Zeitungen, der vor ihr auf dem Tisch lag und fischte einen schmalen Prospekt heraus. Es waren Angebote einer Schweizer Firma, die sich auf die Produktion hochwertiger Puzzlespiele spezialisiert hatte. Kaum jemand wusste, dass die unnahbare, spröde Polizistin in ihrer Freizeit mit Hingabe Puzzles legte. Aber für sie gab es nichts Entspannenderes, als sich mit fünf-oder zehntausend Einzelteilen zu befassen, von denen keins wie das andere war.
Missmutig warf sie den Prospekt auf den Tisch zurück. Nicht einmal der Anblick imposanter Berglandschaften, die die Schweizer ihr anboten, brachte sie auf andere Gedanken. Sie arbeitete jetzt seit fünfzehn Jahren als Todesermittlerin, und sie hatte gedacht, es gäbe nichts mehr, was sie so tief treffen könnte. Immer hatte der Mechanismus funktioniert, den sich jeder Kriminalbeamte mit der Zeit aneignete: Emotionen wegdrücken und professionell ermitteln, denn zu viel persönliche Anteilnahme konnte sich kein Polizist leisten.
Aber dieses Mal versagte das vermeintliche Patentrezept, denn von Tag zu Tag bekam sie mehr das Gefühl, Claudia gekannt zu haben. Sie wusste um ihren Dickschädel, ihre Selbstständigkeit und ihre Lebensfreude. Susanne hatte die Stofftiere in ihrem Zimmer gesehen, die bunten Kritzeleien mit Wachsmalstiften, die unbeholfenen Buchstaben und Zahlen in ihren Schulheften, die angebrochene Tüte Lakritzschnecken neben ihrem Bett. Und sie hatte Wolfgang Seibold zugehört, der immer wieder die gleiche Frage stellte: „Sie war doch ein Engel! Wer tut denn einem Engel so was an?“
Ja, dachte Susanne. Ein Engel, der keine Flügel hatte, um bei Gefahr einfach davonzufliegen.
Nichts und niemand bereitete einen auf sechsjährige Engel vor. Keine Polizeischule, keine Routine, keine jahrelange Erfahrung mit dem Tod. Engel hatten eben keinen eifersüchtigen Ehemann, der sie im Affekt erschlug, keine Verbindungen zur Drogen-Mafia, die sie den Kopf kosteten, sie gerieten nicht zwischen die Fronten rivalisierender Zuhälter. Sechsjährige Engel hatten nicht zu sterben. Die hatten aufzuwachsen, groß zu werden …
Mitten in einem halb gedachten Satz schlief sie erschöpft ein.
Mittwoch, 7. November
Die Nixe saß schon an ihrem Schreibtisch, hatte den Computer hochgefahren und die Besucherstühle mit dem dezenten grauen Polster zurechtgerückt. Letzteres tat sie mittwochs immer, weil die Putzfrau, die dienstags und freitags kam, es regelmäßig versäumte, sie wieder an ihren Platz zu stellen.
In dem winzigen Kämmerchen hinter ihrem Schreibtisch, das als Küche diente, blubberte die Kaffeemaschine. Es war alles wie jeden Morgen.
Als Chris die Tür öffnete, setzte die Nixe zu ihrer üblichen Begrüßungsfloskel an, brach mitten im Satz ab und hob eine Augenbraue. Ihr knallrotes Brillengestell rutschte dabei fast bis auf die Nasenspitze.
„Also, wenn´s an der Loire so ist, wie Sie aussehen, Chef, fahr ich da nie hin“,
Weitere Kostenlose Bücher