Mantelkinder
kommentierte sie. Sie war lange genug bei Chris, um sich solche Flapsigkeiten erlauben zu dürfen.
Loire! Waren sie wirklich erst vor zwei Tagen zurückgekommen? Ihm schien es eher, dieser Urlaub lag schon Jahrhunderte zurück. Und er widersprach der Nixe auch nicht. Er wusste, wie er aussah: Blass, mit müden Augen und dunklen Ringen darunter. Die Folgen einer schlaflosen Nacht, in der er von Bildern toter Kinder verfolgt wurde, und darüber gebrütet hatte, wie er das Entsetzen, das er empfand, und die Professionalität, die von ihm verlangt wurde, unter einen Hut kriegen sollte.
Chris zog sich einen der grau gepolsterten Stühle heran und ließ sich darauf fallen.
„Claudia Seibold“, sagte er nur, während er nach dem Aschenbecher angelte, der auf der äußersten Kante des Schreibtischs stand.
„Verstehe“, murmelte die Nixe und nickte. „Sie grübeln mal wieder darüber nach, ob Sie den richtigen Beruf haben, stimmt´s? Weil Sie Gefühle und anwaltliche Pflichten nicht auseinanderhalten können.“
Seufzend erhob er sich und wischte ein paar Aschekrümel von seinem dunkelblauen Wollmantel. „Sie kennen mich zu gut, Nixchen. Viel zu gut.“
„Chef?“ Sie schob ihre Brille wieder nach oben. „Glauben Sie, irgendjemandem würde das anders gehen bei so einer Sache? Das bleibt keinem in den Kleidern hängen. Keinem Anwalt, keinem Polizisten, keinem Staatsanwalt.“
„Und keiner Anwaltsgehilfin.“
„Und keiner Anwaltsgehilfin.“
„Bereit dazu?“
Die Nixe nickte wieder, ernst wie selten. Dann sagte sie beiläufig: „Ich hab Ihnen schon mal ein paar Beerdigungsinstitute rausgesucht, die angeblich besonders gut mit trauernden Eltern umgehen können. Und ich hab mit der Rechtsmedizin gesprochen. Die geben die Leiche morgen Vormittag frei.“
„Sie …“ Chris klappte den Mund auf und wieder zu und schüttelte den Kopf. „Sie sind großartig.“
„Weiß ich“, winkte sie ab, und trotz der Situation stahl sich ein Lächeln auf ihr Gesicht. „Ich würde vorschlagen, Sie kümmern sich erst mal um Pechstein und seinen Gartenzaun, und in der Zeit mach ich die Anschlusserklärung zur Nebenklage fertig. Kann nicht schaden, wenn sie der Staatsanwaltschaft frühzeitig vorliegt.“
Beinahe kampflos ließ er sich auf einen Vergleich ein, nur, damit es schnell vorüberging. Pechstein war denn auch nicht ganz zufrieden. Er kannte Chris eher als Anwalt, der versuchte, alles für seine Mandanten zu erreichen.
Aber Pechsteins Befinden scherte Chris im Moment nicht. Er wollte sich nur in seinem Büro verkriechen.
Wie hatte die Nixe gesagt? „Gefühle und anwaltliche Pflichten“. Ja, das würde er nie in den Griff kriegen. Und nun kamen die Zweifel wieder — an seiner Berufswahl, an der ganzen Juristerei. Was war er für ein Verteidiger, wenn er oftmals innerlich schon über seine Mandanten gerichtet hatte? Was war er für ein Jurist, wenn er Claudias Peiniger lieber tot als lebendig sah? Was war das für eine Gerichtsbarkeit, die es unter Umständen zuließ, dass ein Kindermörder wieder auf freien Fuß kam?
Eine Weile stand er unschlüssig in der Mitte des Büros, die Hände tief in den Taschen seiner dunkelblauen Hose vergraben. Sah auf die beiden Hundertwasserdrucke an der Stirnwand und die gemütliche Sitzecke davor. Sein Blick wanderte weiter zu den langen Reihen von Ordnern, die in modernen Stahlregalen standen. Daneben, in grauen Aktenschränken, waren alle Fälle archiviert, die er seit seiner Selbstständigkeit übernommen hatte. Dass nur sechs Jahre Arbeit so viel Platz beanspruchen konnten … Sechs Jahre … Claudia …
Endlich wandte er sich seinem Schreibtisch zu, wo sich die Post von letzter Woche stapelte. Da war jede Menge aufzuarbeiten. Seufzend nahm er den Brieföffner zur Hand.
Nach einer Weile merkte er, dass er nur dasaß und Löcher in die Luft starrte. „Konzentrier dich, Sprenger“, murmelte er. „Konzentrier dich einfach.“
Er schlitzte das braune Papier des ersten Umschlags auf und zog das Gutachten eines KFZ-Sachverständigen aus der Hülle. Las lange an der ersten Seite, ohne ein Wort zu verstehen.
Claudia … sechs Jahre … Und ihr Mörder lief frei herum … Wie kleine Blitze tauchten die Fotos des geschundenen Körpers vor seinen Augen auf. Bilder, die er nie wieder loswerden würde. Und der Gedanke, es hätte ebenso gut Frauke treffen können, Karins Sonnenschein, wurde mit einem Mal beinahe unerträglich.
Karin hatte gestern noch mit den Eltern von
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