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Mappa Mundi

Mappa Mundi

Titel: Mappa Mundi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Justina Robson
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geheimes Herz, das nur darauf lauerte, hochzuspringen und zu beißen. Dort wartete nichts außer Bewusstsein und Schweigen. Was konnte sie ihm sagen, um seinen rasenden Sturz in dieses Schweigen zu stoppen? Machte überhaupt irgendetwas einen Unterschied aus?
    Langsam wandte er sich ihr zu. »Ging es?«
    »Ja.« Sie brauchte keinen Scanner. Sie sah die Karies in seinem rechten Backenzahn, das Blut in seinem Herzen, die zusammengezogenen Wände seiner Eingeweide, die unter der Sorge und der Furcht litten. Sie sah alles, ob sie es wollte oder nicht. In ein paar Jahren würde dieser Magen ein Geschwür entwickeln, und wenn er noch ein bisschen mehr Stress erdulden musste, brach das Virus aus, das in den Nervenknoten seines Gesichts hockte, und erzeugte eine Gesichtsherpes, die erst einer Wagenladung Aciclovir weichen würde. Sie sah Teile von ihm vor ihren Augen sterben, zusammenbrechen, einfallen, zerplatzen, zerbersten und sich in Verunreinigungen des Plasmas verwandeln. Legionen von Flora und Fauna lebten in seiner Haut in glückseliger Unkenntnis ihres Wirtes. Auf ihrer Haut lebten keine Eindringlinge. Sie hatte sie abgestreift, als sie sich dispergierte, und das Gleiche galt für alle Mikroben in ihrem Körper, die das NervePath nicht ausdrücklich mit eingeschlossen hatte. Vergiss das nicht, wenn du das System verkaufst, dachte sie, es muss eine Möglichkeit geben, sie wieder zu installieren.
    Jude redete.
    »Kommst du wieder?«
    Sie lächelte. »Weiß ich nicht. Ich werde es versuchen.« Sie berührte ihn am Arm, vorsichtig, als hätte es nie Intimität zwischen ihnen gegeben, und er zuckte zusammen. »Entschuldige.«
    Er zögerte, und sie wusste, weshalb – er glaubte, sich an etwas erinnert zu haben. Doch die Erinnerung erschien ihm unmöglich, und sein Verstand verwarf sie. »Was soll ich entschuldigen?«
    »Schon gut.« Sie stellte sich auf die Zehen und küsste ihn. »Lebwohl, Jude.«
    Er sagte nichts, er kämpfte mit dem Husten und nickte nur knapp.
    »Du siehst besser aus«, sagte er, eine Art Abschiedsgruß; er versuchte fröhlich zu sein.
    »Fünfzig Minuten«, sagte sie und wies mit dem Finger auf ihn.
    Er nickte noch einmal, doch sie wusste, was er dachte: Keine Chance. Auch mir tut es Leid, aber diesmal klappt es nicht.
    Und das konnte sie ihm nicht verübeln, keine Sekunde lang.
    »Natalie?« Es war ihr Vater, er stand in der offenen Tür. Sie wusste, dass er einen Verdacht hegte, obwohl er nicht hatte sehen können, wie sie durch Jude hindurchging.
    »Dad.« Sie überschritt den riesigen, winzigen Abstand zwischen ihnen und drückte ihn an sich. »Ich gehe jetzt.«
    »Gib auf dich Acht«, sagte er in dem Bewusstsein, dass es pathetisch war, ein Laut, aber nichts, das man mitnehmen konnte.
    »Das mache ich immer.« Und vor seinem Gesicht ballte sie die Faust, ergriff seine Worte, drückte ihre Hand an ihr Herz und nahm sie mit.
    Sie wandte sich von beiden ab und folgte dem schmalen Korridor. An seinem Ende war es ihr fast unmöglich, nicht herumzuwirbeln, und doch vermied sie es. Sie wandte sich nach rechts, dem Ausgang zu, doch bevor sie dorthin kam, trennte sie die Informationen auf, ließ Öffnungen und bewegte sich schneller als je zuvor auf ihr fernes Ziel zu; während sie reiste, verlor sie beständig Information wie Tränen an die Lücken, die unermesslich und leer zwischen einer Form der Energie und der anderen liegen.

 
26
     
     
    Jude sah Natalie durch einen Nebel des Schmerzes nach. Ein neuer endloser, blutiger Hustenanfall hatte ihn gepackt, doch seine Gedanken waren voller Bewunderung für die Haltung ihres Rückens, den hoch erhobenen Kopf auf dem zierlichen Körper. Bewusst und ohne zu zögern ging sie auf ein Selbstmordkommando, ohne einen Blick zurückzuwerfen – im Gegensatz zu ihm, der schon die ganze Zeit auf seine Erinnerungen zurückschaute.
    Verschwommen war er sich bewusst, dass ihr Vater bei ihm stand, aufrecht, aber in der instabilen Haltung eines mechanischen Spielzeugs, das durch einen plötzlichen Stromausfall erstarrt ist.
    Als sein Husten endlich nachließ, keuchte er: »Wir sollten jetzt handeln, solange ich noch reden kann.«
    Calum Armstrong blickte ihn an, als nehme er ihn zum ersten Mal bewusst wahr. »Ja«, sagte er tonlos, mit unbewegtem, ausdruckslosem Gesicht. Er ging in den Raum zurück, doch Jude blieb, wo er war. Er hörte keine Aufzugtüren. Kurz fragte er sich, ob Natalie vielleicht noch dort hinter der Ecke wartete, nachdenklich, verängstigt, doch

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