Mappa Mundi
Nagasaki nicht geschehen wären, glauben Sie wirklich, dass jemand anders in einem späteren Konflikt die Atombombe nicht eingesetzt hätte?«, erwiderte sie. »Egal wer sie benutzt hätte, es wäre das Gleiche gewesen.«
»Und wenn die USA nur mit dem Abwurf der Bombe gedroht hätten, statt sie einzusetzen?«
»Gütiger Himmel, muss diese Diskussion denn immer an dieser Stelle enden?«, sagte Kropotkin, dessen Augen ebenso sehr vor Frustration tränten als auch durch die Wirkung von Deliverance.
»Es wird Zeit«, sagte Natalie ruhig. Sie mochte die Vorstellung genauso wenig wie die anderen, doch mit seinen im Kreis verlaufenden hoffnungslosen emotionalen Widerständen begann das Gezänk ihre Entschlossenheit auszuhöhlen. Sie empfand die Abscheu ebenso stark wie die anderen – zum Teufel, sogar stärker –, sie war nun fest in der Hand der Selfware. Nun sah sie alles, was Bobby versprochen hatte, und es war furchtbar.
»Jude.« Sie stieß ihn mit dem Fuß an. »Steh auf. Lass uns gehen.« Sie blickte in sein bestürztes Gesicht mit den blutunterlaufenen Augen, auf dem die Überraschung wegen ihrer Gefühllosigkeit geschrieben stand, doch er stand auf. Vielleicht begriff er, was sie vorhatte, vielleicht auch nicht. Ihr war es mittlerweile egal. Nachdem sie diese schwere Verantwortung zu tragen hatte, war sie nicht mehr gewillt, ihre Probleme zur Diskussion zu stellen. Sie wusste, dass sie nur noch eine Chance hatte, Jude zu retten. In diesem späten Stadium würde Mary Delaney keine Rücksicht mehr auf ihn nehmen – deshalb übernahm Natalie die Sache.
Durch die Bewegung schon musste er husten, und als sie selbst einen Niesanfall bekam, der so heftig war, dass sie glaubte, es würde ihr das Gesicht abreißen, hörte sie, wie der zerbrechliche Friede im Raum hinter ihr in nassem Elend unterging. Sie drehte sich zu Jude um, als sie die Tür durchschritten hatten …
… und als sie sich umwandte, blickte sie in sich und sah die dicken, durchsichtigen Deliverance-Kapseln zwischen ihren Zellen tanzen – sie waren leicht zu erkennen, weil sie das Einzige waren, was nicht zu ihr sprach, sondern nur umherirrte und ihre T-Zellen-Reaktion zu wütenden Anstrengungen reizte, in ihren Hormonen stocherte und ihre Blut-Nährstoffe aufschlürfte, als wäre es Happy Hour in einem verdammten Einheitspreis-Büfett. Sie sah, wie sie zusammengehalten wurden und was sie selbst zusammenhielt, und darin fand sie eine Gleichheit. Sie trennte die Informationen über sich selbst von denen über die Fremdkörper und riss sie auseinander …
… und als sie ihre Drehung beendet hatte, den wunderschönen Regenbogen aus farbigen Partikeln im Anstrich der Wand bewundernd, dem es gelang, für das gewöhnliche Auge wie ein langweiliges Beige auszusehen, sagte sie: »Hör zu. Du musst von jetzt an noch etwa fünfzig Minuten überbrücken, erst dann kann das Zeug dich retten, und auch nur dann, wenn ihm in dir die gleiche Umwandlung gelingt wie in mir. Ich weiß, was du jetzt denkst.« Um seinem Protest zuvorzukommen, legte sie ihre Hände auf seine Arme und blickte ihm in die Augen, bis er akzeptierte, was sich im dunklen Sturm in seinem Kopf zusammenbraute, wie sie sah. »Du musst sie unbedingt so lange hinhalten … fünfzig Minuten überleben. Hast du verstanden?«
Mit Mühe richtete er seine tränenden Augen auf sie und kniff sie zusammen, während er zu begreifen versuchte, wovon sie sprach. Doch wie beim Rest der Welt bestand für Natalie auch hier keine Wahl. Sie wusste, wie Bobby es geschafft hatte, durch andere Menschen hindurchzugehen, seinen indischen Seiltrick, mit dem er Informationen auf Ein-Elektronen-Feldern ungehindert zwischen Molekülverbänden übertrug. Sie zögerte nicht – sie schritt durch Jude hindurch, und auf dem Weg betete sie, dass es funktionierte; sie flehte jeden Gott an, den sie kannte, und dachte: Das hat man immer den Tanz Shivas genannt, Schöpfung in ihrer sich entwickelnden Form. Es ist wie ein Tanz. Macht nur nicht so viel Spaß.
Während des Transits begriff sie auch, weshalb Ian Detteridge ihr gefolgt war, um ihr zu helfen: Information ist ein Energiezustand, und im Durchgehen wurde Energie, die Jude gehörte, für Sekundenbruchteile zu der ihren, und sie wurde zu Jude Westhorpe. Von seiner Seite aus betrachtet, war alles viel klarer.
Sie drehte sich um. Jude wandte ihr den Rücken zu. Er war vor Schreck auf der Stelle erstarrt. Das Gefühl kannte sie. Sie kannte es. Am Grund der Welt saß kein
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