Marco Polo der Besessene 1
»Aber ich vermute, ich
schulde Euch noch mehr Geld - so lange, wie ich hiergeblieben
bin.«
»Aber nein«, sagte er. »Ihr seid ja nicht lange geblieben. Mein
Gewissen treibt mich sogar, Euch einen Dirham
zurückzugeben. Und hier habt Ihr auch Euer Drückmesser
wieder. Shaloml«
Dann war es also immer noch derselbe Tag und noch nicht
einmal spät am Nachmittag; offenbar war mir die ganze Qual
nur unendlich lang vorgekommen. Ich kehrte zurück in die
Herberge, wo mein Vater und mein Onkel und Nasenloch
immer noch dabei waren, unsere Habseligkeiten
zusammenzupacken, jedoch durchaus nicht auf meine sofortige
Mithilfe angewiesen waren. So ging ich hinunter an den See,
wo die Wäscherinnen von Buzai Gumbad immer eine Stelle
eisfrei hielten. Das Wasser war so blaukalt, daß es sich ins
Fleisch zu fressen schien, und so lief mein Bad recht
oberflächlich ab. Ich wusch mir nur Hände und Gesicht und zog
nur flüchtig das Obergewand aus, um mir ein paar Tropfen auf
die Brust und unter die Arme zu spritzen. Es war das erste Mal
in diesem Winter, daß ich das überhaupt tat; wahrscheinlich wäre ich vor meinem eigenen Gestank zurückgeschreckt, nur, daß alle anderen auch und noch schlimmer stanken. Zumindest hatte ich jetzt das Gefühl, um ein weniges sauberer und den Schweiß losgeworden zu sein, der in Chivs Raum auf meiner Haut getrocknet war. Und wie der Schweiß verdünnt wurde, verwässerten auch meine Erinnerungen. So ist das mit dem Schmerz; es ist eine Qual, ihn zu erdulden, doch leicht, ihn zu vergessen. Ich bin fest überzeugt, das ist der einzige Grund, warum eine Frau, nachdem sie die Schmerzen einer Geburt durchlitten hat, auch nur daran denken kann, womöglich noch ein Kind zu bekommen.
Am Vorabend unserer Abreise vom Dach der Welt suchte uns der Hakim Mimdad, dessen eigene karwan auch fortziehen wollte, allerdings in eine andere Richtung, in unserer karwansarai auf, um uns allen Lebewohl zu sagen und Okel Mafio einen Vorrat seiner Medizin für unterwegs zu geben. Und dann, während mein Vater und mein Onkel ziemlich gespannt lauschten, berichtete ich dem hakim, wieso sein Liebestrank ein Fehlschlag -oder aber weit über das hinaus, was er beabsichtigt hatte, erfolgreich -gewesen sei. Ich beschrieb ihm eingehend, was geschehen war -freilich alles andere als begeistert, eher sogar ein wenig vorwurfsvoll.
»Dann hat das Mädchen die Finger im Spiel gehabt«, sagte er. »Davor hatte ich ja gleich Angst. Aber kein Experiment ist ein vollständiger Fehlschlag, wenn man etwas daraus lernt. Habt Ihr etwas daraus gelernt?«
»Nur, daß das Menschenleben nicht nur in merda oder kut endet, sondern auch darin beginnt. Nein, noch etwas anderes: in Zukunft werde ich bei der Liebe vorsichtig vorgehen. Ich will nie eine Frau, die ich liebe, dazu verdammen, ein so grauenhaftes Schicksal wie das Mutterwerden zu erdulden.«
»Nun, da habt Ihr es denn. Ihr habt etwas gelernt. Vielleicht möchtet Ihr es noch einmal ausprobieren? Ich habe hier noch ein Fläschchen, das eine weitere Variante des Rezeptes enthält. Nehmt es mit und probiert es mit irgendeiner Frau, die nicht gerade eine Romni-Zauberin ist.«
Kläglich brummte mein Onkel: »Wenn das kein Dotör Balanzön
ist! Gibt mir ein Mittel ein, das alles auslöscht, und um es
auszugleichen, gibt er jemand, der viel zu jung und spritzig ist,
es zu gebrauchen, einen Liebesverstärker.«
Ich sagte: »Ich werde den Trank annehmen, Mimdad, als
Andenken. Die Vorstellung ist reizvoll -die Liebe in allen
Formen zu erleben. Nur liegt noch ein langer Weg vor mir, ehe
ich alle Möglichkeiten dieses Körpers ausgeschöpft habe, den
ich jetzt zu behalten gedenke. Doch sobald Ihr Euren Trank bis
zur Vollkommenheit verfeinert habt, wird diese Nachricht überall
in der Welt verbreitet werden -vielleicht, daß meine
Möglichkeiten sich dann erschöpfen. Dann werde ich Euch
aufsuchen und Euch bitten, den reinen Trank auszuprobieren.
Bis dahin jedoch wünsche ich Euch Erfolg und sage salaam
und lebt wohl.«
Nicht einmal auf diese Weise konnte ich mich von Chiv
verabschieden, als ich sie noch am selben Abend in Shimons
Haus aufsuchte.
»Schon am Nachmittag«, sagte er gleichmütig, »hat die Domm
um ihren Anteil an den bisherigen Einnahmen gebeten, sich
von hier verabschiedet und sich einer usbekischen karwan
angeschlossen, die nach Balkh losgezogen ist. So etwas tun
Domm. Sind sie nicht faul, treibt es sie umher. Ach, Ihr habt
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