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Maria, Mord und Mandelplätzchen

Maria, Mord und Mandelplätzchen

Titel: Maria, Mord und Mandelplätzchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Stöger
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Lübecker Bucht, plätscherndes Meer, weißer feinkörniger Sand, eine Luft wie Samt und Seide, der Blick weithin über das Wasser. Ich schließe die Augen und habe den Eindruck, eine Sekunde lang, Sonne und Salz auf der Haut zu spüren. Ich seufze und beschleunige meinen Schritt. Aus meinen Haarspitzen tropft Schneewasser, als ich den Bahnhof erreiche. Ich bleibe stehen, beuge mich vor, um nach Luft zu schnappen, und als ich mich aufrichte, sehe ich einen wehenden roten Mantel. Ella. Sie läuft auf den IC auf dem Ferngleis zu, der gerade einfährt. Ich gehe ohne Hast hinterher. Wenn dieser Zug da nach Hamburg fährt, dann weiß ich, dass meine Vermutung stimmt: dann fährt Ella nach Scharbeutz, Bahnhof Haffkrug, mit Umstieg in Hamburg. Von unserem rheinischen Städtchen aus werden wir gute fünf Stunden unterwegs sein. Ja, wir, denn wenn sie wirklich einsteigt, werde ich mitfahren.
    Sie steigt ein.
    Ich betrete das erste Abteil hinter der Lok – Ella ist in dem Wagen nebenan – und finde sogar einen freien Platz gleich neben der Tür. Meinen feuchten Mantel hänge ich an den Haken gegenüber, bevor ich mich in meinem Sitz zurücklehne, meine Tasche an mich presse und tief durchatme. Durch den Zug geht ein Ruck, dann fährt er los. Durch mich geht ebenfalls ein Ruck. Ich brauche einen Plan. Aber zuallererst muss ich mich sammeln und die Fakten sortieren, alles der Reihe nach:
    Auf Ellas Küchentisch liegt ein Amulett mit einem geschnitzten Bussardkopf. Ein genau gleiches Modell habe ich selbst vor acht Tagen zusammen mit einem beiliegenden Brief per Post zugeschickt bekommen. Es handelt sich dabei um einen verlogenen, rührseligen Schmachtfetzen, den ich schon beim ersten Überfliegen als dreisten Bettelbrief entlarvt und in die Ecke geschmissen habe. Absender ist Gerhard aus Scharbeutz, der sich selbst gerne Schäraar nannte und mit einem französischen Akzent kokettierte. Ich habe ihm das nie abgekauft, habe ihn aber gewähren lassen. Er sah gut aus, war jünger und spontaner als ich und hat mich eine Woche lang in jeder Hinsicht gut unterhalten. Wieder zu Hause, habe ich ihn unter der Rubrik »Sommerliebe, teuer« in die Archive meiner Erinnerungen gepackt und vergessen. Bis zu jenem plumpen Brief, dessen Anweisungen ich selbstverständlich ignoriert habe. Ich schon. Aber was ist mit Ella? Alle Indizien sprechen dafür, dass sie erstens einen ebensolchen Brief samt Amulett erhalten hat wie ich, woraus zweitens folgt, dass auch sie irgendwann dem unseligen Schäraar in die Arme gelaufen, wenn nicht gar gefallen sein muss, und dass sie drittens leider dessen widerwärtige erneute Kontaktaufnahme nicht ignoriert. Befände sie sich sonst auf dem Weg nach Scharbeutz? Nein. Eben.
    Der Zugbegleiter taucht auf, ich löse eine Fahrkarte für siebenundneunzig Euro und verschiebe die Anschaffung neuer Winterstiefel auf den Herbst.
    Den Besuch bei Ella im Waggon nebenan verschiebe ich ebenfalls.
    Durch das Fenster sehe ich verschneite Felder und Autos mit Schneehauben auf dem Dach. Ich stelle mir vor, wie Ella in diesem Moment eingeschüchtert und verzagt auf ihrem Platz kauert und ängstlich ihre Tasche bewacht, in der sie schlimmstenfalls bereits einen größeren Geldbetrag verstaut hat. Um sie nicht zusätzlich zu verschrecken, muss ich behutsam vorgehen.
    Aber wie? Ich schließe die Augen, um besser nachdenken zu können. Als ich sie wieder öffne, sind wir in Hamburg Hauptbahnhof, und ich hätte fast das Umsteigen verpasst. Wieder weist mir Ellas leuchtendroter Mantel den Weg, ich muss nur hinterhergehen. Der Anschlusszug steht schon bereit. Diesmal steige ich direkt hinter ihr ein, warte, bis sie sich einen Platz gesucht hat, und setze mich dann neben sie.
    »Ach«, sagt sie, »Emily? Was für ein Zufall.«
    Ich erwidere erst mal gar nichts. Dafür gibt es gleich mehrere Gründe. Erstens weiß sie meinen Namen, was darauf schließen lässt, dass sie sich mein Klingelschild angesehen hat. Zweitens verstaut sie ihre Tasche locker unter dem Sitz, anstatt sie ängstlich zu bewachen. Drittens wirkt sie keineswegs verzagt, sondern entschlossen. Viertens ist sie nicht nur schlank, sondern sie ist drahtig und durchtrainiert. Sie sieht mich auffordernd an, offenbar wartet sie auf Antwort. Noch immer verblüfft, ziehe ich wortlos das Amulett aus der Tasche und halte es ihr hin. »Na so was, Sie also auch«, sagt sie nur und ballt die Fäuste. »Dann sollten wir uns zusammentun.«
    Als wir eine halbe Stunde später im Bahnhof

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