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Maria, Mord und Mandelplätzchen

Maria, Mord und Mandelplätzchen

Titel: Maria, Mord und Mandelplätzchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Stöger
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zu Balkon oder, wie zurzeit, von Fenster zu Fenster.
    Ella hat die liebenswürdige Angewohnheit, jede Jahreszeit und jeden Feiertag mit einem entsprechenden Tischschmuck zu würdigen. Daher weiß ich, was mich heute erwartet, denn heute ist der neunzehnte Dezember. Ich bin ein wenig früher aufgewacht als sonst, taste im Halbdunkel nach meinem Wecker und stelle zufrieden fest, dass ich noch ein paar Minuten Zeit habe bis zum Aufstehen. Um ziemlich genau halb neun nämlich, keinesfalls früher, wird Ella wie jedes Jahr am neunzehnten Dezember die silberne Vase mit den geschmückten Tannenzweigen auf ihren Frühstückstisch stellen. Und wie jedes Jahr werde ich ihr dabei von meinem Küchenfenster aus zusehen. Da Ella ihren Frühstückstisch, wie ich den meinen auch, ans Fenster gerückt hat, kann ich meistens sogar die glänzenden Kugeln an den Zweigen erkennen.
    Erwartungsvoll stehe ich also endlich auf, schiebe die Vorhänge in meinem Schlafzimmer zurück und lasse die kalte Winterluft herein. Der Himmel hängt tief und milchig über den Dächern. Es riecht nach Schnee. Mich schaudert – aber nicht wegen der Kälte, sondern wegen Ella. Still und unbewegt ist es gegenüber, keine Gardine wird weggezogen, kein Fenster geöffnet. Ein paar Minuten warte ich noch, dann laufe ich hinüber in meine Küche, um von dort aus auf Ellas Esstisch zu schauen. Keine Vase, kein Weihnachtsschmuck. »Ella, wo bist du?«, will ich rufen, aber der Ruf bleibt mir im Halse stecken, weil mir einfällt, dass sie ja gar nicht wirklich so heißt und dass wir uns außerdem nicht duzen. Ich drücke mir die Nase an der Scheibe platt, weil ich auf ihrem Tisch einen Gegenstand liegen sehe, der dort nicht hingehört. Was ist das? Ich husche zurück ins Schlafzimmer, vergewissere mich, dass die Gardinen noch immer unbewegt vor Ellas Fenster hängen, und angele nach dem Fernglas, das verstaubt und vergessen ganz oben auf dem Schuhschrank liegt. Zurück in der Küche, drücke ich mir das Fernglas gegen die Augen, drehe hektisch an dem Rädchen zur Scharfeinstellung und bin mir dabei selbst peinlich. Was ich hier mache, ist nichts anderes als ekelhaftes, niederträchtiges Nachspionieren! Unsinnige Bedenkenhuberei, weise ich mich zurecht. Endlich gelingt mir die Scharfeinstellung, und ich nehme das Ding auf Ellas Küchentisch ins Visier. Das gibt’s nicht, denke ich, das kann nicht wahr sein. Was ich sehe, ist ein rundes Holzamulett, in das der Kopf eines Bussards geschnitzt ist. Das alleine wäre nicht sonderlich erstaunlich, läge nicht ein exakt gleiches Amulett auch in meiner Wohnung, irgendwo achtlos beiseitegeschoben zwischen Postwurfsendungen, einigen wenigen Weihnachtskarten und dem Brief, mit dem mir besagtes Amulett vor etwa acht Tagen zugesandt wurde.
    »Um Himmels willen«, rufe ich in meine menschenleere Wohnung, »sie wird doch nicht ...« Fast schon panisch reiße ich mir den Morgenmantel vom Leib, rase ins Badezimmer, ziehe mich an, fahre mir durch die Haare, rase zurück in die Diele, suche dort mit zitternden Händen den Brief samt Amulett, werfe mir den Wintermantel über, klemme meine Handtasche unter den Arm, knalle die Tür hinter mir zu und überlege noch beim Hinauslaufen, wie ich es anstelle, Ella schnellstmöglich ausfindig zu machen.
    Atemlos stehe ich vor der Eingangstür des Hauses, in dem sie lebt, und studiere zum ersten Mal die Klingelschilder. Vier Namen stehen da säuberlich untereinander. Ella wohnt, so wie ich, in der ersten Etage. Blindlings drücke ich also auf den zweiten Knopf von unten. Den Namen daneben registriere ich nicht. Ella soll Ella bleiben. Vor allem aber soll sie zu Hause sein und mir öffnen. Aber nichts rührt sich. Nichts. In meiner Aufgeregtheit drücke ich wild auf alle Klingeln. Niemand zu Hause. Nirgends.
    Nun fängt es auch noch an zu schneien. Zunächst segeln nur wenige kleine weiße Sternchen vom Himmel, denen in vorsichtigem Abstand doppelt so viele folgen, dann immer mehr, bis die gesamte Atmosphäre zwischen Himmel und Erde aus lautlos schwebenden Schneeflocken zu bestehen scheint. Ich stecke meine klammen Finger in die Manteltasche und ertaste das hölzerne Amulett und den Brief.
    Es ist wie eine Eingebung. Scharbeutz, denke ich, und bin schon auf dem Weg zum Bahnhof. Der ist recht übersichtlich, kein Metropolenbahnhof. Aber immerhin halten IC und ICE auf dem Ferngleis. Schon einmal bin ich von hier aus nach Scharbeutz gefahren, damals allerdings im Sommer. Badeurlaub an der Ostsee,

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