Mariana
Antwort auf alle Fragen sei, und als sie merkte, daß sie sich geirrt hatte, war sie allein zurückgeblieben, und niemand war da, den sie mit ihrer romantischen Zuneigung beglücken konnte.
Davy nahm Rockys Lob mit geziertem Lächeln entgegen. Da er einer seiner Lieblingsschüler war, bekam er stets die schönsten Gedichte, im Gegensatz zu der armen, dicklichen Margaret O’Gorman, die aus dem Erröten nicht herauskam, während sie einen abscheulichen Kitsch über Porzellanfigürchen auf einem Kaminsims vortrug. Mary hörte auf, über die Liebe nachzudenken, denn jetzt war sie gleich an der Reihe. Ihr Mund wurde schon ganz trocken, und ihr Magen krampfte sich zusammen.
«Shannon», sagte Mr. Rockingham mißvergnügt, und sie stürzte hinauf auf die Bühne, wobei sie sich noch schnell ihre gelbe Bluse hinten in den Rock steckte.
«Herrgott noch mal, lassen Sie die Fummelei an Ihren Sachen», kam die Stimme von unten herauf, was nicht gerade zu ihrer Beruhigung beitrug. Sie holte tief Luft, verschränkte die Arme auf dem Rücken und begann überstürzt:
«Mit dunklem Moose überkrustet
war jede dieser Blumenschalen —»
«Titel?» schnappte Rocky.
«Ach so, Verzeihung. Äh — .»
«Autor?» fragte er, noch bevor sie «Tennyson» sagen konnte.
Da sie bereits völlig entnervt war, kam der Anfang des Gedichts ganz anders heraus, als am Abend zuvor in der Badewanne. Aber nach einer Weile trugen die Worte sie wieder in den Rhythmus des Gedichts zurück. Plötzlich unterbrach Rocky sie, indem er die Hand hob: «Warum stellen Sie Ihre Füße eigentlich so einwärts? Die sind doch nicht deformiert, oder?»
«Nein.» Sie stellte ihre Füße schnell zurecht. Wie sie ihn haßte! Warum konnte er sie das Gedicht nicht weitersprechen lassen. Es war typisch für ihn, einen gerade dann zu unterbrechen, wenn man richtig in Fahrt kam. Sie schob die Unterlippe vor und setzte ihren Vortrag fort. Nicht einmal Rocky konnte die Schönheit dieser von Trauer erfüllten Verse zerstören.
«Doch am meisten haßte sie die Stunde,
wenn der staubglitzernde Sonnenstrahl
schräg ins Zimmer fiel und somit Kunde
gab, daß sich der Tag von hinnen stahl.
Ich bin traurig, ach, er wird nicht kommen,
klagte sie in ihres Herzens Not,
und von Tränen war ihr Blick verschwommen,
und sie seufzte: Wär ich doch schon tot.»
Weil er sie das Gedicht, ohne Kritik zu äußern, bis zu Ende aufsagen ließ, weil er seinen Kopf nicht stöhnend in den Händen vergrub, sich nicht die Haare raufte oder die Augen gen Himmel schlug und zwischen zusammengebissenen Zähnen «O mein Gott» hervorstieß, glaubte Mary, noch einmal davongekommen zu sein. Sie wartete und beobachtete ihn ängstlich wie ein Hund, der hofft, daß man ihn auf einen Spaziergang mitnimmt.
«Äh — Shannon, meine Liebe», sagte er, wobei dieses Beiwort mehr gönnerhaft herablassend als liebevoll gemeint war, «Sie haben das Gedicht so aufgesagt, als ob es Ihnen gefällt.» Marys Herz machte einen Freudensprung. Rocky betrachtete seine Fingernägel und fuhr mit gelangweilter Stimme fort: «Sagen Sie mir, glauben Sie, daß der Mann zurückkommt, auf den sie wartet?»
«Hm — nein, das glaube ich nicht», entgegnete Mary überrascht.
«Ach was? Das ist ja interessant. Und darf man fragen, warum nicht?»
Fragen darf man, dachte Mary, aber das besagt noch nicht, daß man eine vernünftige Antwort bekommt. Darauf war sie nicht vorbereitet. Die Frage, ob der Mann zurückkommt, hatte sie sich nie gestellt, denn der Grundton des Gedichts war Trostlosigkeit. War das wieder eine von Rockys Fallen? Sie versuchte, die richtigen Worte zu finden, aber unter seinem durchbohrenden Blick war es schwer, nicht ins Stottern zu kommen und drumherum zu reden. «Ich dachte, äh, wissen Sie —»
«Wissen Sie, wissen Sie, wissen Sie!» sagte Rocky, dessen übereinandergeschlagene Beine nervös zuckten, als würden sie von jemandem auf ihre Reflexe geprüft, «ich weiß gar nichts, und Sie auch nicht, wie ich sehe. Kommen Sie runter. Halt», rief er, als Mary sich anschickte, um seiner Anordnung so schnell wie möglich zu folgen, gleich von der Bühne herunterzuspringen, «über die Treppe. Zum Donnerwetter, benehmen Sie sich doch wie ein weibliches Wesen und nicht wie ein Elefant.»
Mary war wütend. So dick war sie ja nun auch wieder nicht. Wie konnte er so etwas sagen. Sie näherte sich schweigend seinem Thron und fühlte einen luftigen Spalt zwischen ihrer Bluse und dem Rock klaffen,
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