Mariana
brachte sie beide gerade noch rechtzeitig in Sicherheit, bevor ein Bus sie überfahren hätte.
«Wenn er nun gar nicht die Absicht hat, bei uns zu wohnen? Er hat doch jetzt viel mehr Geld, und wahrscheinlich will er sich lieber eine eigene Wohnung nehmen. Daran habe ich ja überhaupt nicht gedacht —»
«Nein, er wird es bestimmt so haben wollen, wie es früher gewesen ist.» Mary nahm ihre Mutter am Arm und steuerte mit ihr auf den gegenüberliegenden Bürgersteig zu. Es war immer eine Angstpartie, mit ihr im Verkehrsgewühl unterwegs zu sein, weil sie sich nicht konzentrieren konnte. «Er war immer sehr häuslich, und wenn er erst sieht, wie du sein Zimmer eingerichtet hast —» Aber ihre Mutter wollte sich nicht beruhigen lassen. Sie sandte ein aufgeregtes Telegramm ab und hatte keine ruhige Minute, bis die Antwort eintraf. Immer wieder ging sie ins Fremdenzimmer hinauf, stand verzweifelt inmitten der so vollkommen gelungenen männlichen Atmosphäre und murmelte: «Wenn ich doch nur daran gedacht hätte —»
In dem Antworttelegramm stand: «Was heißt eigene Wohnung stop so leicht wirst du mich nicht los stop ewig und immer dein Geoff.»
«Na also», sagte Mrs. Shannon, «ich hab’s ja gleich gewußt, daß er bei uns wohnen will», stülpte sich ihr schickstes Pariser Hütchen auf und begab sich trällernd in die South Molton Street.
Mary trällerte nie auf dem Wege zur Schauspielschule, denn die Jahresprüfung hing drohend wie eine Gewitterwolke über ihr. Es war das Ereignis des Jahres. Jeder Schüler erhielt die Chance, sich in irgendeiner Szene zu bewähren. Die Aufführung fand vor einem Publikum von stolzen Eltern und aufgeregten Freunden statt, und begutachtet wurde sie durch alle möglichen Theaterleute, die Rocky durch Überredungskunst oder Erpressung dazu gebracht hatte, an der Veranstaltung teilzunehmen.
Miß Gould wählte die Stücke für die Schüler des ersten Jahres aus und verteilte die Rollen. Als fanatische Jüngerin Rockys besetzte sie sie mit der gleichen, boshaften Freude genauso falsch wie er.
Mary, die auf der Bühne nicht viel beweglicher als ein Stück Holz war, erhielt die Rolle der Margaret Dearth, der Traumtochter in . Alle sagten, was sie für ein Glück habe, aber sie wußte, daß diese Rolle gar nicht auf ihrer Linie lag. Was ihre Linie eigentlich war, hatten bisher weder sie noch sonst jemand entdecken können. Ganz bestimmt aber war es nicht ihre Stärke, zwischen imaginären Bäumen herumzuhüpfen und Verse zu sprechen, die haarscharf auf der Grenze zwischen Verzauberung und Verrücktheit lagen, wobei der Autor Barrie es der jeweiligen Schauspielerin überlassen hatte, für welche Version sie sich entschied.
Da es mehr Schülerinnen als Schüler gab, mußten letztere in mehreren Szenen auftreten, unabhängig davon, in welchem Jahr der Ausbildung sie sich befanden.
«Das ist ganz schlecht für sie», sagte Angela zu Mary, als sie bei einer Tasse Kaffee und einer Tafel Vollmilch-Nuß-Schokolade in der Garderobe zusammensaßen, «die kommen sich dann bloß noch unentbehrlicher vor.»
«Na ja, Männer sind ja auch unentbehrlich, wenn du es dir genau überlegst», sagte Mary düster.
«Die hier nicht, Gott sei Dank. Hör mal, habe ich dir von dem hinreißenden Mann erzählt, den ich gestern abend kennengelernt habe? Mit grauen Schläfen, wie in einem Illustrierten-Roman. Schon ziemlich alt natürlich, aber es heißt, er hätte tolles Glück bei Frauen.»
«Ja, von dem hast du mir erzählt — zweimal schon.»
«Wirklich? Entschuldige. Was ist denn los mit dir? Du bist ja so schlecht gelaunt?»
«Das würdest du auch sein, wenn du gehört hättest, was ich gerade gehört habe.» Mary seufzte tief. Es war üblich in der Rockingham-Schule, mit seinem Schicksal zu hadern, aber diesmal war es wirklich zu arg.
«Nicht genug, daß ich diese unmögliche Rolle spielen muß», fuhr sie fort, «wer glaubst du, ist mein Partner?»
«Armstrong?»
«Schlimmer!»
«Doch nicht etwa Henshaw», fragte Angela voller Anteilnahme. war lang und dünn und blaß wie Spaghetti, er sah widerwärtig aus und hatte stets feuchte Hände.
«Noch schlimmer. Kein anderer als dieser weibische Robert Darwin.»
«Ach», sagte Angela ganz erleichtert, «das finde ich nicht so schlimm. Der ist wenigstens sauber.»
«Nur im Vergleich zu den anderen. Spielen tut er miserabel. Alles, was er kann, ist, mit seinem Profil angeben. Ich dagegen kann weder spielen noch habe
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