Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mariana

Mariana

Titel: Mariana Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monica Dickens
Vom Netzwerk:
und sah aus wie eine hungrige Krähe. Mit kurzem Kopfnicken ging er an ihnen vorbei, setzte sich und schlug das Klassenbuch mit der Miene eines Mannes auf, der eine unangenehme Aufgabe so schnell wie möglich zu erledigen wünscht. Er besaß in hohem Maße die Fähigkeit, Angst und Schrecken um sich herum zu verbreiten, noch ehe er den Mund öffnete. Seine Gesten und sein Gesichtsausdruck kündeten Unheil, und wenn er den ersten Namen aufrief, klang es wie ein Todesurteil.
    «Armstrong.»
    Armstrong war ein armseliger, kleiner Bursche mit kurzen Beinen und abfallenden Schultern. Seine Hosen waren zu kurz und zu eng, und sein Haar brauchte dringend einen Friseur und etwas Brillantine. Er sah schmuddlig aus und war es auch. Er händigte Rocky sein Kollegheft aus, schritt die kleine Seitentreppe zur Bühne hinauf und stellte sich vorn an die Rampe. Seine Arme hingen steif herab.

    «Gestern nacht, ach, gestern nacht,
    da küßten meine Lippen heiß die ihren —»

    Es gehörte zu Rockys Foltermethoden, seinen Schülern jeweils die für sie ungeeignetsten Gedichte zu geben.
    «Augenblick mal, Armstrong», unterbrach er ihn nach der vierten Zeile, «Sie haben gerade das Wort ausgesprochen. Ich nehme doch an, Sie wissen, was das bedeutet?»
    «Ja», sagte Armstrong, der es zwar nicht wußte, aber darüber gelesen hatte.
    «Dann legen Sie gefälligst etwas davon in Ihre Stimme.»
    Armstrong schluckte und begann von neuem. Rockys monotone Unterbrechung an derselben Stelle, sein war entmutigender als jede Kritik. Armstrong seufzte gequält, nahm allen Mannesmut zusammen, stellte einen Fuß vor, streckte seine großen, völlig überflüssig wirkenden Hände aus und legte seine ganze Seele in den Vortrag. Mit weitausholender Geste schloß er: «Ich war dir treu, Cynara, stets — auf meine Art», dann stand er — ein wenig keuchend — abwartend da.
    «Müssen Sie aus einem zauberhaften Gedicht unbedingt eine Burleske machen?» fragte Rocky. «Ich werde es Ihnen vorsprechen.» Er stieg auf die Bühne, schob den sich unterwürfig verbeugenden Armstrong aus dem Weg und sprach das Gedicht — das mußte man ihm lassen — sehr schön. Seine Stimme besaß Tiefe und Resonanz, eine altmodische, fast melodramatische Ausdrucksfähigkeit, die zu Herzen ging.
    Armstrong kam sich vor wie der Auswurf der Menschheit, und er wünschte sich, nie wieder vortragen zu müssen.
    «Verstehen Sie jetzt, was ich meine?» fragte Rocky, durch den Klang seiner eigenen Stimme besänftigt, «sprechen Sie mir das Gedicht nächste Woche noch einmal vor.»
    Als er wieder auf seinem Stuhl saß, rief er Edna Barrow auf, eine hübsche, lebhafte Blondine. Mit dünner Stimme quälte sie sich mit einer Passage aus ab. Rockys einziger Kommentar bestand darin, ihre Mimik nachzuäffen.
    Mary wünschte, ihr Name finge nicht mit S an. Es war schrecklich, so lange warten zu müssen, bis man an die Reihe kam. Mit jeder Minute nahm das Selbstvertrauen immer mehr ab. Es machte ihr keine Freude, den anderen zuzuhören. Waren sie gut, dann beneidete sie sie. Waren sie schlecht, so war ihre Niederlage nur ein Vorgeschmack dessen, was ihr selbst blühen konnte.
    Vier oder fünf Mädchen kamen hintereinander auf die Bühne, wurden durch Rockys beißende Kritik gleichsam in der Luft zerrissen und schlichen davon, um sich von ihrer Blamage zu erholen. Ein unsympathischer Jüngling namens Davy Morgan sprang mit einem Satz auf die Bühne, und seine Stimme, als er zu rezitieren begann, umschmeichelte die Zuhörer so sanft wie der Hauch des Windes, der über die Berggipfel von Wales streicht.

    «Jetzt, da du mir nach langer Trennung nahst,
    jetzt wirst du mein, beim Klange meiner Lieder.
    Es lockt die Nacht zu glückhaft langer Rast,
    und in den Sternen seh dein Bild ich wieder.
    So wie der Tag am Morgen neu erstrahlt,
    sein Licht verschwendet über Blütenbäume,
    zieht’s dich zu mir mit magischer Gewalt,
    umsponnen von dem Zauber meiner Träume.
    Der Göttin gleich, die ich der Welt erschuf,
    eilst du herbei, den Träumer sanft zu wecken,
    geführt von meines Herzens Sehnsuchtsruf,
    das Paradies des Liebsten zu entdecken.»

    Als er geendet hatte, herrschte Stille, dann räusperte Rocky sich, und der Bann war gebrochen. Mary seufzte und dachte über die Liebe nach. Man brauchte sie. Man brauchte das Paradies, in dem der Liebste wartete, und sie war weiter denn je davon entfernt, es zu finden. Sie hatte geglaubt, daß Denys die

Weitere Kostenlose Bücher