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Mariana

Mariana

Titel: Mariana Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monica Dickens
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sah Mrs. Shannon gar nicht ähnlich, ihre Neugier zu zügeln, wenn sie ihre Tochter irgendwo im Haus weinend antraf. Sie hatte keine Fragen gestellt; sie hatte ganz einfach die Rolle der verständnisvollen Mutter übernommen, hatte ihr aufmunternd auf die Schulter geklopft und ihr ein teures Abendkleid aus ihrem Geschäft geschenkt. Mary hatte keine Ahnung, woher ihre Mutter es wußte, aber hätte diese es nicht gewußt, so würde sie nicht eher geruht haben, bis sie dahintergekommen wäre.
    Außer Julius Rockingham gab es in der Schule noch vier oder fünf weitere Lehrer für Rezitation, Darstellung und Regie, ferner Miß Dallas und Miß Yvonne D. Bullock, die zweimal in der Woche in einer schmuddligen Toga und einem tiefsitzenden Stirnband griechischen Tanz lehrte. Außerdem gab es noch Graf Borchens, der Fechtunterricht erteilte. Bei der Flucht vor der russischen Revolution hatte er außer einem sinnlichen Blick nur das nackte Leben retten können.
    Die Schüler waren in zwei Gruppen eingeteilt, je nachdem, in welchem Jahr sie angefangen hatten. In den meisten Klassen waren beide Geschlechter vertreten, aber anders als in amerikanischen Collegs gab es hier keine heimlichen Liebesaffären, sondern nur gegenseitige Abneigung und Eifersucht zwischen den Geschlechtern, die von Rocky gefördert wurde, indem er voll Wonne die einen vor den anderen demütigte. Die männlichen Schüler waren für ihn sowieso entweder der Abschaum der Menschheit, oder er fand sie hinreißend wie Robert Darwin, den König des zweiten Schuljahres, der groß und geschmeidig war, weiches, braunes Haar hatte und ein Profil, dessen er sich in jedem Augenblick bewußt war.
    Den Rezitationsunterricht erteilte Rocky in dem kleinen Theatersaal der Schule, in dem es zwar eine ebenso komplizierte wie gefährliche Beleuchtungsanlage, dafür aber so gut wie keine Kulissen gab. Sparsamkeit und karge Szenerie kamen gleichermaßen in den langen, grünen Vorhängen zum Ausdruck. Sie umschlossen die Bühne an drei Seiten und hatten nur ein paar Öffnungen für die jeweiligen Auftritte und Abgänge.
    «Folgt Eurem Mute», donnerte Heinrich V. und schwang sein mit Stanniolpapier umwickeltes Holzschwert, «und greift Ihr an im Sturm, ruft: Gott mit Heinrich! England! Sankt Georg!»
    Gemessenen Schrittes, mit erhobenem Arm und leicht eingeknickten Knien wollte er abgehen, doch verzweifelt tastete er sich an den Vorhängen entlang, weil er keine Öffnung fand.
    Die Dekoration war entsprechend reichlich abgenutzt durch vielfachen Gebrauch. Ein Treppenpodest diente als Böschung, auf der der wilde Thymian blühte und das Mondlicht so süß schlief, man bestieg aber auch auf ihm die Guillotine. Der Sessel aus Eichenholz mit der hohen, geschnitzten Rückenlehne stand, wenn er nicht gerade als Thron oder Richterstuhl benötigt wurde, in der ersten Parkettreihe. In ihm saß Rocky und leitete den Unterricht.
    Es war entsetzlich. Jede Woche mußten sie ein Gedicht lernen, dann in alphabetischer Reihenfolge auf die Bühne klettern und ihr Bestes geben, um Rocky zufriedenzustellen, wobei er von Anfang an entschlossen war, dieses Beste noch lange nicht gut genug zu finden.
    Mary und Angela saßen auf Holzstühlen in der dritten Reihe. Mary warf noch einen Blick in ihr Notizbuch und klappte es dann zu. Kein Grund zur Aufregung, sagte sie sich. Sie lernte leidenschaftlich gern Gedichte, es machte ihr nicht die geringsten Schwierigkeiten, sie zu behalten, und in dieser Woche wagte sie sogar zu hoffen, daß ihr der Vortrag leidlich gut gelingen würde. Sie hatte sich in ihr Schlafzimmer eingeschlossen und die Verse immer wieder aufgesagt. Sie hatte gerungen, um das letzte an Wirkung und Bedeutung aus jeder Zeile herauszuholen, bis ihre Mutter sich besorgt durch die Tür erkundigte, ob ihr nicht gut sei. Sie hatte gewimmert, sie hatte geschrien, hatte Betonung und Melodie der Sprache hundertmal geändert, bis ihr schließlich der Klang der eigenen Stimme nichts mehr besagte. Als sie es sich — gestern abend in der Badewanne — nochmals vorgetragen hatte, war sie mit dem Resultat ganz zufrieden gewesen. Sie haßte und verabscheute Rocky, aber es wäre natürlich wundervoll, wenn er einmal sagen würde: Gut!
    Julius Rockingham erschien in dem kleinen Theater wie ein Richter im Gerichtssaal. Das Stimmengewirr erstarb zu ehrfürchtigem Wispern, die Schüler erhoben sich, wenn sich die Tür öffnete und er hereinstelzte. Er trug dunkle Hosen zu einem schwarzen, glänzenden Jackett

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