Mariana
wagte aber nicht, etwas daran zu tun.
«Denken Sie überhaupt mal über irgend etwas nach?» fragte Rocky kühl, stützte die Ellenbogen auf die Armlehnen und tippte die Fingerspitzen gegeneinander.
«Wieso? Ja, selbstverständlich. Ich-»
«Da haben wir es», fiel er triumphierend über sie her. «Genau das ist es, Cannon, Shannon, oder wie Sie auch immer heißen mögen. Sie haben ein Schild um und auf dem steht mit feuerroten Buchstaben nur das eine Wort: \ Sie sind nur mit sich beschäftigt, sonst interessiert Sie nichts. In Ihrem Leben ist offenbar alles immer nach Ihrem Kopf gegangen. Offenbar war immer jemand da, der Ihnen alles abgenommen hat, der Ihr Jammern und Ihre Launen über sich ergehen ließ.»
Vor Wut kamen Mary die Tränen, während sie auf einen Spalt zwischen den Dielenbrettern starrte. Sie biß sich auf die Lippen und kochte innerlich. Selbst wenn das, was er sagte, wahr wäre, wie durfte er sich derartige Unverschämtheiten erlauben, nur weil er den Ruf besaß, ein zu sein? Sie hatte das Gedicht ganz gut vorgetragen, aber er hatte wahrscheinlich überhaupt nicht zugehört und sich die ganze Zeit nur überlegt, wie er ihr eins auswischen könnte. Als er sie genug attackiert hatte, entließ er sie mit den Worten: «Gehen Sie, setzen Sie sich. Mit Ihnen und Ihresgleichen vergeude ich nur meine Zeit.»
«So ein Schuft», flüsterte Angela, als Mary sich neben ihr in den Stuhl fallen ließ.
«Ein hundsgemeiner Schuft», wiederholte Mary und putzte sich die Nase. Als sie aufblickte, begegnete sie Davy Morgans schadenfrohem Blick, der sich umgedreht hatte und sie, wie er glaubte, spöttisch überlegen musterte. Sie streckte ihm die Zunge raus.
Als Angela an die Reihe kam, sprang sie leichtfüßig auf die Bühne. Sie sah mit ihrem hellen, im Licht glänzenden Lockenschopf, in ihrem schicken, kleinen Kleidchen, das vermutlich irrsinnig teuer gewesen war, so attraktiv aus, daß sogar Rocky nicht ganz schwarz für ihre Zukunft sehen konnte. Trotzdem — oder vielleicht gerade deswegen — unterbrach er sie, als sie eben mit begonnen hatte, und sagte: «Zu meinem Unterricht kommen Sie bitte nicht mit Armreifen — das gehört sich nicht.» Angela griff nach drei goldenen Reifen, die ihr ein zum Geburtstag geschenkt hatte.
«Entschuldigen Sie bitte», sagte sie und lächelte.
«Weiter, weiter», sagte Rocky, aber jetzt war sie aus dem Konzept, hatte den Faden verloren und geriet völlig durcheinander, während Rocky wartete und dabei gequält mit dem Fuß wippte.
«Darf ich noch mal anfangen, Mr. Rockingham?»
«Nein», sagte er erschöpft, «sagen Sie es mir nächste Woche wieder auf.»
Die letzte auf der Liste war die arme Muriel Willoughby, die immer aussah, als ob sie Schnupfen hätte. Sie stand mitten auf der Bühne wie am Pranger, spitzte die Lippen und begann träumerisch:
«Se waa’n bei miah und saachten, du weehrst tot —»
Sie kam nicht über die ersten Worte hinaus. Fünfmal ließ Rocky sie die Zeile wiederholen, wobei er jedesmal unbarmherzig ihren Dialekt nachahmte, dann schlug es zwölf. Er erhob sich, schoß seinen letzten Pfeil auf sie ab, indem er fragte: «Ist das da nicht ein Pickel in Ihrem Gesicht?» Muriel hatte wahrscheinlich Stunden damit verbracht, ihn zu verdecken. «Pickel sind keine Grundlage für ein Make-up», sagte Rocky und verließ, vor sich hinbrabbelnd, den Raum.
In immer gleichem Trott schleppte sich das Sommersemester dahin, mit kleinen Gehässigkeiten und Eifersüchteleien, mit boshaftem Klatsch und wenig Begeisterung, aber mit um so mehr Angst, peinlichen Situationen oder Wutanfällen. Mary machte sich keinerlei Gedanken, wohin diese Schauspielausbildung führen würde, falls es überhaupt irgendwohin führen würde.
Die Nachricht, daß Onkel Geoffrey nach Hause kam, um bei einer englischen Filmgesellschaft zu arbeiten, bestärkte sie nur in ihrem Entschluß dabeizubleiben.
Mrs. Shannon war in fieberhafter Aufregung. Sie richtete das Fremdenzimmer her, das bis jetzt nur eine Rumpelkammer für Koffer, alte Vorhänge und Pappschachteln gewesen war. Wie würde ihm das wohl gefallen, oder dies oder jenes, fragte sie Mary unaufhörlich und führte ihr außer ihrer gereizten Stimmung noch alle möglichen Vorhangmuster und Gaskamin-Modelle vor. Als alles fertig war, blieb sie eines Tages plötzlich mitten auf dem Damm stehen. «O Gott», sagte sie entsetzt.
«Was ist denn los?» fragte Mary und
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