Marie ... : Historischer Roman (German Edition)
noch immer im Kopf. Beispielsweise Seite 411, oben: ´Gemüseeintopf. Man nehme drei zarte Kohlräbchen, ein halbes Pfund gelbe Rüben ...`“
Saunière lachte schallend. „Ah, jetzt wird mir endlich klar, weshalb du so gut kochen kannst! Man könnte meinen“, spottete er, „dass jeder Mensch seine Bestimmung hat. Dem lieben Gott war wohl schon damals klar, dass er dich eines Tages zu mir heraufschicken würde, und allwissend, wie er nun einmal ist, kannte er natürlich auch meinen exquisiten Geschmack!“
„Ich finde das gar nicht lustig, Hochwürden!“
„Ach, komm, lass dich doch nicht ärgern. Erzähl weiter, was hast du sonst noch getrieben?“ „Ich habe mir Geschichten ausgedacht, und ich war schrecklich neugierig. Noch heute höre ich die Großmutter stöhnen: ´Kein Kind in Couiza fragt so viel wie du, das sagen schon alle Leute. Setz dich lieber hin, strick Strümpfe, wie es dir deine Mutter aufgetragen hat. Du willst doch nicht, dass sie heute Abend wieder auf dich schimpft, oder?` Warum war ich nicht zufrieden und genügsam wie die anderen Mädchen im Dorf? Widerstrebend hab ich nachgegeben und murrend die verhasste, kratzige, steingraue Wolle hervorgekramt. Zwei rechts, zwei links, ein Überschlag! O wie langweilig! ´Großmutter, meine Hände sind so furchtbar klamm, und jetzt ist mir schon wieder eine Masche heruntergefallen!`“
Ich hatte mich richtig in Eifer geredet.
„Also, Marie“, Saunière lachte erneut, „dein Humor ist einfach köstlich. Warum beklagst du dich überhaupt über deine Kindheit? Du hast viel Güte und Liebe erfahren von deiner Großmutter. Lass das Vergangene ruhen. Übrigens war mein Vater zwar der Bürgermeister von Montazel, aber nur der Verwalter des Schlosses von Cazémajou, nicht der Schlossherr selbst. Ich hatte mehr Glück als du, man hat mich und meine Brüder gefördert – die Schwestern weniger, das gebe ich zu -, aber du hast dennoch nichts versäumt. Du bist noch jung. Sapere aude! – Wage es, weise zu sein! Nun, der Weise stirbt zwar wie der Tor, und am Ende macht der Tod uns alle zu Narren, dennoch ist es richtig, sich zu bilden. Beginne jetzt mit dem Lernen, treibe mich zur Weißglut mit all deinen Fragen. Du wirst immer eine Antwort hören, wenn ich nicht gerade selbst über einem wichtigen Problem sitze. Und ich will dir einen weiteren Vorschlag zur Güte machen: Hör augenblicklich mit dem dummen Stricken auf. Socken habe ich zur Genüge! Ich wäre dir sicher auch keine große Hilfe, wenn die Maschen wieder fallen!“
Wir lachten beide.
Der Versuch, mich von den anderen durch höhere Bildung abzuheben, ist mir gründlich misslungen. Meinen hochfahrenden Ehrgeiz habe ich längst begraben. Dennoch war Bérenger Saunière der einzige Mensch in meinem Leben, der mir jemals eine Chance gab. Im Laufe eines Jahres hat er unter großer Mühe und mit unerschöpflicher Geduld mein geringes Schulwissen aufpoliert. Neben all dem Putzen, Kochen und Schmücken der Kirche lernte ich fleißig und wurde dabei noch wissbegieriger, aber auch mutiger und erfahrener. Damit entfremdete ich mich nach und nach von den Dorfbewohnern, ein Stück weit auch von Émilie, von Louise und den anderen Freundinnen in Couiza, die nicht verstehen konnten, weshalb mich plötzlich solch „unnütze Dinge“ wie Mathematik, Geometrie und später – nach unserem geheimnisvollen Fund - vor allem alte Geschichte zu interessieren begannen. Und Mutter gar, sie hätte entsetzt die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, wenn sie unsere abendlichen Gespräche in der alten Pfarrküche belauscht hätte.
Anfangs hat mir das nicht viel ausgemacht. Ich war zu beschäftigt und stolz, weil ich Fortschritte machte - faul bin ich nie gewesen. Nur, das alles scheint nicht genügt zu haben. Irgend etwas muss bei allem guten Willen falsch gelaufen sein. Die Gebildeten, mit denen ich so gern disputiert hätte über die geistigen, politischen und sozialen Fragen unserer Zeit (diese treffliche Formulierung habe ich erst kürzlich im Lyoner Wochenblatt gelesen), sie schließen mich noch heute aus.
„Geistiger Austausch ist nur unter Gleichgestellten möglich“, habe ich Boudet einmal sagen hören, als er mit Saunière Schach spielte, und der hat ihm mit keiner Silbe widersprochen. Aber wenn einer der hohen Gäste bemerkt: „Sie ist eine exzellente Köchin, deine Marie! Du bist wirklich zu beneiden, Bérenger!“ nickt er und strahlt über das ganze Gesicht.
Am liebsten würde ich ihnen allen
Weitere Kostenlose Bücher