Marie und die Meerjungfrau (Das Geheimnis der Zaubermuscheln)
SELBER eine Ballerina zu sein. Und wenn sie schon nicht tanzen durfte, so wollte sie doch wenigstens so aussehen wie eine.
„Mama, ich möchte nur ein Tutu, wirklich. Und zu Weihnachten wünsche ich mir Spitzentanzschuhe! Die hänge ich mir über das Bett und stelle mir vor, wie sehr mir die Füße wehtun, weil ich den ganzen Tag darin geübt habe. Es wird mir dann viel weniger ausmachen, immer müde zu sein.”
Die Mutter seufzte und stand auf. Als sie aus dem Zimmer ging, warf sie noch einen kurzen, traurigen Blick auf Marie, bevor sie die Tür hinter sich schloss. Aber Marie hatte das nicht gesehen. Sie war viel zu aufgeregt, und sie konnte es kaum erwarten, endlich Geburtstag zu haben und ihr Tutu auszupacken!
Jetzt war Marie vor Vorfreude so wach, dass sie nicht mehr einschlafen konnte. Vorsichtig glitt sie aus dem Bett, schlüpfte in ihre Filzpantoffeln und zog ihren alten Frotteebademantel an, um hinunter in die Küche zu gehen und sich ein Glas warme Milch mit Honig zu machen. Leise öffnete sie ihre Schlafzimmertür, um ihre Eltern nicht zu wecken, als sie Licht sah, das eine Etage tiefer aus dem Wohnzimmer neben der Küche kam. Ihre Eltern waren wach. Dann hörte sie ihre Mutter schluchzen. Wie angewurzelt blieb Marie auf der Treppe stehen und lauschte.
„Sie hat sich nichts außer einem Tutu gewünscht, und noch nicht einmal diesen einen Wunsch können wir ihr erfüllen!”, hörte Marie ihre Mutter sagen.
Schock! Sie würde kein Ballettkostüm bekommen, begriff Marie in diesem Moment und eine Welt brach in ihr zusammen, während sie sich am Treppengeländer hinab gleiten ließ und matt auf die oberste Stufe setzte. Sie fühlte sich elend.
„Das Kleid, das du ihr genäht hast, ist wirklich wunderschön!”, sagte die Stimme ihres Vaters. „Es wird ihr bestimmt gefallen.”
„Es ist aus dem Hochzeitsschleier meiner Urgroßmutter genäht. Meine Großmutter, meine Mutter und ich, wir alle haben ihn zu unseren Hochzeiten getragen: Auch Marie sollte ihn tragen. Es war das einzige Erbstück, das ich noch für sie hatte.”
Der Vater schwieg. Vielleicht erinnerte er sich an die Worte der Ärzte, die Marie damals nicht hatte hören sollen. Sie glaubten nicht, dass Marie ihr achtzehntes Lebensjahr erreichen würde. Einen Hochzeitsschleier würde sie demnach niemals benötigen.
„Ich habe einfach nicht gewusst, woher ich den teuren Stoff für das Kleid nehmen sollte, das sie unbedingt haben wollte. Jetzt ist der Schleier hin und der Stoff reichte nicht aus. Nicht für ein Tutu und noch nicht einmal für ein einfaches Tüllkleid. Ich habe ihr einziges Erbstück zerstört, und wofür? Für rein gar nichts!”
Der Vater schwieg noch immer.
„Es ist alles so fürchterlich! Und Marie weiß noch nicht einmal, dass du keine Arbeit mehr hast und wir unsere Wohnung im nächsten Monat nicht mehr bezahlen können. Was sollen wir nur tun? Wo sollen wir nur wohnen? Wovon sollen wir leben und womit Maries teure Arztrechnungen und Medikamente zahlen? Wir haben doch nichts und niemanden mehr.”
„Wir haben uns noch”, flüsterte der Vater, und durch die halb geöffnete Wohnzimmertür sah Marie, wie er seinen Arm um seine Frau legte. Sie sah, wie sich die Hände ihrer Mutter in seine Ärmel krallten, als müssten sie den Rest ihrer kleinen Welt daran festhalten, während sie ihr Gesicht in seinem Hals verbarg und bitterlich weinte.
Marie selbst war auch zum Weinen zumute. Sie hatte nicht gewollt, dass ihre Mutter ihretwegen den Hochzeitsschleier opferte. Sie wusste, wie sehr ihre Mutter daran hing — sie sagte immer, es sei die einzige Erinnerung an ihre Familie, die ihr geblieben sei — und bewahrte ihn in einer edlen, mit Leinen bezogenen Schachtel im obersten Fach ihres Kleiderschrankes auf, als sei er der kostbarste Schatz. Und nun war er nicht nur weg, sondern sein Opfer schien auch noch sinnlos gewesen zu sein, wenn nicht mehr als ein halbes Tüllkleid dabei herausgekommen war. Außerdem hatte Marie gehofft, wenn sie schon keine echte Ballerina werden konnte, so doch ein echtes Tutu zu bekommen, keinen umgenähten Hochzeitsschleier! Aber sobald sie das gedacht hatte, fühlte sie sich schlecht. Es war alles ihre Schuld. Alles! Ihre Mutter hatte ihre Arbeit aufgeben müssen, nachdem sie ein krankes Baby zur Welt gebracht hatte. Und dann hatten die Eltern nach und nach alle ihre schönen Sachen verkauft, um Maries Arztrechnungen zahlen zu können. Alles Unglück ist nur ihretwegen geschehen! Warum konnte
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