Marie und die Meerjungfrau (Das Geheimnis der Zaubermuscheln)
sie nicht gesund sein, wie andere Kinder auch, und ihre Eltern glücklich machen? Wie konnte sie nur so egoistisch sein? Wie wichtig war ein Ballettkostüm, wenn sie bald noch nicht einmal mehr ein zu Hause haben würden?
„Sehr wichtig”, sagte eine kleine Stimme in ihrem Herzen, bevor sie etwas dagegen tun konnte.
Das Tüllkleid
A m nächsten Morgen traute sich Marie kaum aus dem Bett. Sie hatte die ganze Nacht wach gelegen und geübt, wie sie auf den Anblick des umgenähten Hochzeitsschleiers reagieren sollte. Sie würde einfach so tun, als ob sie den Schleier nicht erkennen könnte, und sie würde so tun, als ob sie sich sehr über das Kleid freute.
„Hoffentlich merken sie nicht, dass ich das nur spiele”, dachte Marie nervös und übte ihr Lächeln noch einmal vor dem Spiegel. Dann machte sie leise die Tür auf und ging ganz sachte die Treppe zur Küche hinunter. Kaffeeduft strömte ihr entgegen und noch etwas anderes: Pfannkuchen? Nein. Schokoladenkuchen? Bestimmt war es Schokoladenkuchen! Marie liebte den Schokoladenkuchen ihres Vaters und er hatte es sicher nicht vergessen.
„Guten Morgen!”
Marie sah, wie ihre Mutter sich schnell wegdrehte und mit ihrem Ärmel über die Augen wischte, bevor sie mit einem Lächeln auf sie zu kam und sie wortlos in die Arme nahm. Die Augen ihrer Mutter waren sehr rot und leicht geschwollen und es schien, als hätte ihre Mutter genau so wenig geschlafen wie sie selbst. Marie sah zu ihrem Vater hinüber, der gerade den Kaffee einschenkte. Er blickte sie an und lächelte warm.
„Guten Morgen, mein liebstes Geburtstagskind! Du bist ja richtig früh dran.”
„Ich konnte nicht schlafen”, erwiderte Marie ehrlich, und ihre Eltern blickten besorgt.
„Mir geht es gut. Ich … ich war wohl nur etwas aufgeregt.” Und schnell ergänzte sie: „Weil ich doch heute Geburtstag habe.“
„Marie …”, fing ihre Mutter mit gepresster Stimme an, sagte dann aber nichts weiter, sondern schaute auf den Boden.
„Deine Mutter hat ein wunderschönes Geschenk für dich, meine Kleine”, ergänzte der Vater nach einem Moment. „Es ist nicht ganz das, was du haben wolltest, aber vielleicht kannst du damit schon mal die Grundübungen vor dem Spiegel einstudieren. Und wenn du sie beherrschst, dann bekommst du das echte Tutu, um uns eine Privataufführung zu geben.”
„Um Himmels willen!”, rief die Mutter erschrocken. „Was redest du da?”
Aber der Vater lachte nur und zwinkerte seiner Tochter zu. Maries Gesicht fühlte sich plötzlich sehr heiß an: Sie hatte nicht geahnt, dass ihr Vater wusste, dass sie heimlich vor dem Spiegel übte.
Auf dem Tisch, vor ihrem Teller, lag ein großes rechteckiges Paket, das aussah, als sei es in glänzendes Meerwasser gewickelt. Die Schachtel hatte eine leicht geraffelte Oberfläche und änderte die Farbe, je nachdem wie man auf sie schaute — mal silber, mal grün, dann wieder silbergrün. Irgendjemand hatte aus orangefarbenem Papier kleine Goldfische ausgeschnitten und darauf geklebt. Sie alle schienen um einen ebenfalls ausgeschnittenen, weißen Seestern zu schwimmen, auf dem mit silberner Farbe geschrieben stand: „Für unseren schönsten Stern, Marie”. Eine große weiße Schleife hielt die Schachtel geschlossen.
„Willst du dein Geschenk nicht öffnen?”, meinte ihr Vater schmunzelnd.
Marie zögerte.
„Darf ich die Schachtel behalten?”, fragte Marie und strich vorsichtig über die silbrig-grüne Oberfläche.
„Nun, das hängt davon ab, ob du sie in diesem Jahr noch aufmachst.”
Marie lachte und zog die weiße Schleife auf. Ihre Eltern gaben sich immer sehr viel Mühe mit dem Verpacken, als wollten sie die kleinen Geschenke, die sie sich leisten konnten, so gut wie möglich durch die Verpackung aufwerten. Marie mochte die Verpackungen oft mehr, als die Geschenke darin. Sie hatte vor einigen Jahren damit angefangen, ihre Geschenke nicht mehr auspacken zu wollen. Solange alles verpackt war, meinte sie ihre Fantasie spielen lassen und von all den schönen Sachen träumen zu können, die im Geschenk sein könnten. Marie hatte viel Fantasie. Einmal, als sie kleiner war, hatte sie sich sogar vorgestellt, in einem Weihnachtsgeschenk sei ein Brüderchen für sie. Die Idee fand sie so überzeugend, dass sie das Geschenk ganz schnell aufgerissen hatte, um ihr Brüderchen zu sehen. Aber im Paket fand sie nur eine grüne Strickjacke mit roten Knöpfen. Die Strickjacke war schön, und auch herrlich warm, aber ein Brüderchen
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