Marie und die Meerjungfrau (Das Geheimnis der Zaubermuscheln)
war aus Porzellan, trug ein leicht verstaubtes, cremefarbenes Tutu und ganz kleine, wunderbar zierliche Spitzentanzschühchen. Elegant balancierte sie auf ihrem linken Bein, während sie das andere anmutig anwinkelte, sodass die Spitze des Tanzschuhs ihre winzige Wade berührte. Ihre Arme streckte sie grazil über den leicht geneigten Kopf mit dem dunkelbraunen Haarknoten und dem feinen Kopfschmuck, der wie ganz kleine Muscheln aussah — von dem aber das größte Stückchen in der Mitte fehlte. Ihre aufgemalten Augen waren geschlossen, ihr roter Mund lächelte. Sie schien zu schlafen, während sie sich in der geöffneten Musikdose langsam zum Klang der Melodie drehte.
Diese Perlmutt-Spieldose mit der kleinen Ballerina war Maries ganzer Stolz, seit ihre Eltern sie auf einem Flohmarkt gefunden und ihr im Jahr zuvor zum Geburtstag geschenkt hatten — in einer herrlichen weißen Pappschachtel mit einer großen silbernen Schleife darauf. Es war das allerschönste Geburtstagsgeschenk, das Marie jemals bekommen hatte. Noch niemals zuvor hatte sie etwas so zauberhaftes wie diese zerbrechliche Figur gesehen, die sich mit geschlossenen Augen, wie träumend, in ihrer endlosen Bewegung im Kreis drehte. Und so wünschte sich Marie von jenem Tag an nichts sehnlicher, als selbst eine Ballerina zu sein, ein cremefarbenes Tutu und feine Spitzentanzschühchen zu tragen und ihre langen, hellbraunen Locken um sich fliegen zu fühlen, während sie sich im Kreis dreht und die Welt an ihr vorbeiwirbelt. Und sie träumte davon, dass ihre Mama und ihr Papa ihr dabei zuschauten und dass sie endlich wieder lachen und glücklich sein würden.
Aber das war nur ein Traum. In Wirklichkeit konnte Marie nicht tanzen. Ihr Körper war so dünn wie der ihrer kleinen Ballerina, ihre Haut war genau so elfenbeinfarben. Aber ihre langen, glänzenden Haarlocken lagen hauptsächlich auf dem Kopfkissen ihres Krankenbetts, und ihre grüne Augen mit den kleinen orangefarbenen Sprenkeln wirkten viel zu groß für ihr schmales Gesicht. Es waren Augen voller Fragen, mit denen sie stundenlang sehnsüchtig am Fenster saß und in die Welt davor schaute, die sie so selten betreten durfte. Auf eine graue Straße und graue Häuserwände mit grauen Fenstern und unten parkten alte, graue Autos und graue Menschen hasteten die grauen Gehwege entlang. Selbst die Bäume schienen grau zu sein.
„Darum musst du in der Wohnung bleiben, Marie”, erklärte die Mutter ständig. „Die Luft hier in der Stadt ist viel zu schädlich für dich. Warte ab, bis wir wieder am Meer sind, dort darfst du raus.”
Und jetzt endlich waren sie am Meer!
Am Meer
W ie jedes Jahr, wenn die Touristensaison vorüber war und die Tage kurz und die Strände leer wurden, fuhren Marie und ihre Eltern auf eine kleine Insel an der Ostsee. Da die Seeluft gut für ihre schwachen Lungen war, hatte Maries Vater vor Jahren damit begonnen, dort einem alten Ehepaar bei den Reparaturen an ihrer Pension zu helfen. Sobald die Sommergäste (mit ihren Kindern) abgereist waren, gab es in dem gemütlichen alten Haus mit seinen dicken weißen Wänden und dem knarrenden Holzfußboden immer viel zu tun: Das Treppenhaus wollte neu gestrichen werden, die Teppiche waren schmutzig, die Holzdielen vom Sand verkratzt und das Dach samt der Schornsteine musste ausgebessert werden, bevor die schweren Herbst- und Winterstürme über die Insel fegten. Dazu gab es immer auch einige Möbel, die der Reparatur bedurften, und wenn Löcher im Bettzeug waren, dann half auch Maries Mutter mit und nähte Neues oder besserte alte Tischdecken aus. Dafür, dass Maries Eltern die alte Pension immer so liebevoll auf die nächste Saison vorbereiteten, durfte die kleine Familie dort kostenlos wohnen. Das machten sie, seit Marie sich erinnern konnte, jedes Jahr.
Marie atmete tief ein und lächelte, als sie nicht husten musste. Am Meer ging es ihr immer viel besser als zu Hause.
„Ach könnten wir doch für immer hierbleiben”, seufzte Maries Mutter, wie jeden Tag.
Bis zu ihrem letzten Geburtstag wäre Marie auch gerne auf der Insel geblieben, aber seit sie die kleine Perlmutt-Spieldose mit der Ballerina besaß, wollte sie lieber in der Stadt wohnen, wo es Ballettschulen und Tanztheater gab. Sie hoffte, dass sie, wenn sie schon nicht selbst tanzen lernen, so doch wenigstens anderen beim Tanzen zuschauen dürfte. Sie würde sich einige schöne Stellungen abschauen können, und sie abends heimlich vor dem Spiegel üben. Hier auf der Insel
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