Marienplatz de Compostela (German Edition)
nach meinen zwei Enkelchen fragen.«
Bucher strahlte ihn an. »Ich gehe davon aus, den Enkelchen geht es prächtig, bei so einem Opa.«
»Was willst du?«, wiederholte Beck trocken.
Bucher ließ seinen Blick auffällig über den Schreibtisch gleiten. »Kaum was los bei euch im Moment. Werden denn keine Schecks mehr gefälscht, Unterschriften nachgemacht und Erpresserschreiben mit der Hand geschrieben? Ist die Welt so gut geworden?« Er griff in die Innentasche seines Jacketts und holte die Plastiktüte hervor, in der sich Postkarte und Brief befanden. Er deutete auf das Motiv der Karte. »Schau mal, schönes Foto, nicht wahr? Frankreich, Loire, kriegt man gleich Sehnsucht, oder?«
Beck blieb unbeeindruckt. »Ich bin eher der Italientyp. Mit den Franzosen hab ich es nicht so.« Das war fies, weil er Buchers familiären Hintergrund kannte. Der freute sich über den Seitenhieb und erklärte: »Ist von einer jungen Frau, die auf Pilgerreise war. Sie hat ein Sabbatjahr eingelegt und wollte zu Fuß nach Santiago de Compostela. Seit zwei Wochen ist sie verschwunden.«
Beck rümpfte die Nase. »Compostela? Das hat dieser Komiker mit seinem Buch verbrochen. Alles Volk rennt nun auf ehemals einsamen Pilgerwegen umanand und plärrt nach jeder Etappe ins Handy, um der Welt von den tief gehenden spirituellen Erfahrungen zu berichten. Ätzend! Und wenn die Füße brennen und Blasen werfen, ist das kurz vor dem Einsatz eines Rettungshubschraubers. Grässlich … grässlich. Und kaum zurück, jammern alle gleich wieder von Burn-out und so. Ahh.«
Bucher nickte nur, um einer Grundsatzdiskussion über den Zustand der Gesellschaft aus dem Wege zu gehen und führte das Gespräch wieder zu seinem Anliegen zurück. »Keine große Sache, Friedemann. Ich brauche kein Gutachten, kein Schreibkram für dich, verstehst du? Nur eine mündliche Aussage von dir, ob diese Postkarte wirklich von Anne Blohm, so heißt die junge Frau, geschrieben worden ist. Ich habe Vergleichsmaterial dabei.« Er wedelte freundlich mit dem Brief. »Es geht uns nur darum, den Ermittlungsansatz richtig wählen zu können. Mehr nicht. Im Grunde musst du nur mal kurz drüberschauen.«
Bucher grinste, obwohl er seine letzten Worte vom kurz mal Drüberschauen bereute. Jetzt nur keine Fehler eingestehen.
Beck rührte sich nicht. Nur seine Hand wies aus dem Fenster auf das gegenüberliegende Gebäude. »Da drüben gibt es ein Stockwerk, da sitzen hoch bezahlte Leute, die nichts anderes machen, als Geschäftsprozesse definieren «, die letzten beiden Worte sprach er verächtlich aus, »und die haben auch einige solcher Geschäftsprozesse für uns in der Handschriftenanalyse erstellt. Du kannst dir das im Intranet ansehen – Dreiecke, Pfeile, Vierecke, Kreise und so –, verkappte Kandinskys, die Typen. Einer dieser Prozesse nennt sich Antragsmanagement – dieser Prozess besteht aus dem Dreieck Aktenzeichen , dem Viereck Ermittlungsbericht zweifach, dem Kreis Untersuchungsantrag, ebenfalls zweifach. Die geometrischen Formen sind mit einem Pfeil der anzuwendenden Reihenfolge nach verbunden. Im gesamten Intranet habe ich keinen Geschäftsprozess finden können, der da lautet: Ich schau mal locker flockig vorbei und lege dem Kollegen Arbeit auf den Schreibtisch zum kurz mal Drüberschauen . Glaube mir, Johannes, so einen Geschäftsprozess gibt es nicht, weil es ihn nicht geben darf. So haben die das erklärt. Ehrlich. Das ist verboten. Ich darf das gar nicht machen.«
Bucher sah bedrückt drein und ließ einen gequälten Laut hören. »Mhm, Friedemann. Ja, kenne ich doch, dieses Geschäftsprozessflussdiagramm. Aber hast du auf dieser Grafik nicht den großen, dicken Pfeil gesehen, der in der Mitte war, und der alle Kästchen, Kreise und Dreiecke durchzogen hat? Ein weißer Pfeil auf weißem Grund und beschriftet ist er mit: Wirklich wichtig – rote Schrift auf rotem Grund. Schau da noch mal nach. Außerdem gibt es ja auch noch so was wie Kollegialität und Solidarität. In welcher Gesellschaft leben wir denn inzwischen? Gerade du als Psychologe solltest doch Verständnis aufbringen.«
»Verschon mich«, sagte Beck und hob energisch den Arm. Als er ihn senkte, griff er nach der Ansichtskarte.
Gewonnen, dachte Bucher, und meckerte weiter. »Ich kann doch auch nichts dafür, dass du hier in diesem hässlichen Büro hocken musst, nur weil dir die Aufklärung von Verbrechen am Herzen liegt. Mit einem Psychologiestudium, einem abgeschlossenen noch dazu, hättest du
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