Marienplatz de Compostela (German Edition)
Türme der Kathedrale Sainte-Croix auf.
Anne Blohm war ganz schön weit gekommen in den letzten vierzehn Tagen.
Er drehte die Karte um und erfasste schnell die wesentlichen Informationen: Eine französische Briefmarke und eine unruhige Schreibschrift versahen den hellen Karton; der Poststempel datierte auf den vierten Juni.
Bucher reichte die Karte an Lara Saiter weiter und fragte matt: »Handelt es sich zweifelsfrei um die Schrift Ihrer Tochter?«
»Aber natürlich, es ist die Schrift unserer Tochter, ganz sicher …«, sprach Frau Blohm schnell und erregt, »aber sie ist sehr ungleichmäßig. So schreibt sie eigentlich nicht.«
»Vielleicht hat sie sie im Zug geschrieben, an einem engen Bistrotisch«, wehrte Bucher ab.
Lara Saiter empfand ähnlich wie er und beide überlegten unabhängig voneinander, wie sie aus der Situation herauskommen konnten. Lara fragte: »Was passt denn Ihrer Meinung nicht zusammen, Frau Blohm. Es ist doch ein gutes Zeichen, Ihre Tochter ist in Frankreich und hat Ihnen eine Karte geschrieben. Es ist ihre Schrift, wie Sie zweifelsfrei festgestellt haben. Weshalb freuen Sie sich nicht darüber?«
Es war Frau Blohm anzusehen, wie sehr sie sich konzentrieren musste, um ruhig zu bleiben und die Frage korrekt zu beantworten. Ihre Stimme zitterte. »Erstens wollte Anne nicht nach Orléans, sondern hatte eine andere Route geplant. Und sie wollte auch viel länger in der Schweiz bleiben. Meine Schwester lebt in Bern und wir haben Freunde in Nyon am Genfer See. Dort wollte sie Station machen, hat sich dort aber überhaupt nicht gemeldet«, sie musste zweimal tief atmen, um weiterreden zu können und deutete auf die Ansichtskarte in Lara Saiters Hand, »… und dann dieser Text. So etwas schreibt unserer Tochter nicht, alles ist falsch, nichts passt. Diese Karte da beruhigt uns nicht, vielmehr bestätigt sie unsere Sorge.«
Lara Saiter las stumm, während Frau Blohm weiter erläuterte: »Die Rechtschreibfehler – es ist völlig unmöglich, gibt mit ie . das fehlende d von den , das ist uns völlig unverständlich, wirklich völlig unverständlich. Und der Text selbst macht doch auch inhaltlich keinen Sinn.«
»Hatte Ihre Tochter eine Schreibschwäche? Das gibt es ja«, meinte Bucher.
»Nein«, kam es energisch, fast verzweifelt von Frau Blohm, »Anne hatte keine Schreibschwäche, nein, die hatte sie nicht, und sie hatte auch keine Depressionen und sie nahm keine Medikamente …« Herr Blohm legte eine Hand auf den Arm seiner Frau. Sie zog ihn heftig weg und sprach langsam und mit weniger Empörung weiter. »Sie hat ein Volontariat in einer Redaktion gemacht und sehr viel geschrieben. Sie war eine erstklassige Schülerin, vor allem Sprachen lagen ihr. Nein, das ist doch völlig unmöglich, dass sie so einen Unsinn schreibt So etwas … so etwas hätte sie niemals geschrieben.«
»Aber es ist die Schrift Ihrer Tochter?«, insistierte Bucher kühl.
»Ja.«
Herr Blohm war wieder aufgestanden und hatte einige Fotos geholt. Er legte sie auf den Tisch und deutete auf eine Aufnahme, die eine junge Frau zeigte. »Wir haben das am Marienplatz gemacht, am Tag, als sie aufgebrochen ist.«
Bucher sah eine junge Frau mit schulterlangen, dunkelbraunen Haaren. Sie lachte fröhlich in die Kamera, hatte Trekkingstiefel an, einen eher kleindimensionierten Rucksack vor den Füßen liegen und stützte sich auf einen Wanderstab. Die braunen Beine waren schlank und muskulös. Ein frischer, sportlicher Typ. Ja – es war in der Tat schwer vorzustellen, dass eine solche Frau giebt schreiben würde. Dennoch fielen ihm jede Menge kritische Fragen ein, die er auf eindringliche Weise hätte stellen müssen: Wie war das Verhältnis innerhalb der Familie beschaffen – gab es vielleicht Streit, Verärgerungen? War es möglich, dass ein so geordnet durchs Leben gehender Mensch wie Anne Blohm plötzlich der Liebe wegen Eskapaden lieferte? Es war nicht der Augenblick für derlei Fragen. Jetzt nicht. Es ging um Grundsätzlicheres: War die Besorgnis des Ehepaars Blohm ernst zu nehmen und bestand Handlungsbedarf?
Lara Saiter las den Text laut vor. Zweimal. » Ihr Lieben, wie schön ist es hier am Fluss und ich will bald in Lanac sein, dann weiter zu en Lava-Landschaften der Auvergne. Es giebt so viel Schönes hier. Bis bald, liebe Grüße Anne. «
Wenig Persönliches, fand Bucher. Nur Beschreibungen der Reiseroute. In der Tat ein eigenwilliger Text, aber was stand nicht sonst für krudes Zeug auf Ansichtskarten.
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