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Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben

Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben

Titel: Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Sommer
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sondern bloß an meiner beschränkten Weltsicht.«
    »Ach Quatsch«, sagte Zinkel, »Kinder haben normalerweise einen ziemlich guten Instinkt, was ihre Mitmenschen anbelangt.« Hier war nichts, was er jemand anderem als Antonia zuordnen würde. Er wandte sich dem aus allen Nähten platzenden Bücherregal zu.
    »Bestimmt.« Antonia klang sarkastisch. »Darum gehen sie auch immer wieder mit irgendeinem Fremden mit.«
    »Okay, aber diese Leute arbeiten mit Tricks, Häschen gucken oder Kätzchen. Würde ich behaupten, ich hätte ein paar Pferde auf der Weide, würdest auch du in deinem Alter sicher mitkommen, wenn ich’s dir anbiete, etwa nicht?«
    Leseratte, dachte er, und ein interessantes Spektrum: viele Klassiker, sogar Sachbücher und Lyrik, wenig Unterhaltung. Die Bücher standen und lagen in Mengen, die die Bretter des Regals durchhängen und die Seitenwände sich übergewichtig ausbeulen ließen. Er musste kräftig zerren, um hinter die Lektüre schauen zu können.
    »Sie sind ja auch Polizist und von daher vertrauenswürdig. Haben Sie?«
    »Was?« Zinkel zog den gesammelten Hesse aus dem Regal.
    »Na, Pferde«, sagte Antonia.
    »Kann ich leider nicht mit dienen, die Viecher sind mir zu riesig.« Da lag etwas. Eine Mappe? Er zog sie hervor.
    »Was ist das denn?« Antonia gab sich entrüstet.
    Er klappte die Mappe auf. »Zeugnisse, und zwar nicht deine«, sagte er und hielt Antonia den Inhalt vor die Nase. »Die Frage ist eher, wie du da drangekommen bist.« Ein schlechtes Versteck für etwas, das zu verbrennen sicherer gewesen wäre, fand er.
    »Gar nicht«, behauptete sie, »ich hab das noch nie gesehen.«
    »Enno?«, rief er in den Flur hinaus.
    »Was gefunden?«, kam es zurück.
    »Ich denke schon.« Er nahm die Mappe und ging hinunter, gefolgt von Antonia.
    Lübben befand sich im Schlafzimmer und durchforstete gerade ein Schmuckkästchen, beobachtet von einer händeringenden Lilian Tewes. »Was hast du?«, fragte er.
    »Körbers Zeugnismappe.«
    »Interessant.« Lübben deutete aufs Bett.
    Ein Ausweis. Zinkel runzelte die Stirn und trat näher. Körbers Ausweis, erkannte er.
    »Das macht die Geschichte von seinem Auszug immer unglaubwürdiger, findest du nicht? Ach, und was haben wir denn hier?« Lübben zog eine Männerarmbanduhr aus dem Kasten, ließ sie vor Tewes’ Nase baumeln und kniff die Augen zusammen. »Für Christian von Lilian«, las er die Gravur auf der Rückseite vor. Er stemmte die Hände in die Hüften. »Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, uns zu erzählen, was damals wirklich passiert ist«, sagte er. »Dieser angebliche Auszug ist mir von Anfang an komisch vorgekommen. Und jetzt ist das kein Gefühl mehr, sondern Tatsache: Ihr Christian hätte im Leben nicht seine Uhr, seinen Ausweis oder die Zeugnisse zurückgelassen, genau die Dinge, die er bei einem Neuanfang am meisten gebraucht hätte.«
    Tewes riss die Augen auf, und Tränen rannen ihr in Kaskaden übers Gesicht. Sie öffnete und schloss den Mund, immer wieder, ohne ein Wort hervorzubringen. Antonia ging zu ihr, erstarrte jedoch mitten in der Bewegung, hilflos angesichts der ungeheuren Anschuldigung, die unausgesprochen im Raum stand.
    Zinkel dachte unwillkürlich an Dornröschen; hundertjähriger Schlaf und kein Prinz in Sicht. »Du solltest jetzt wirklich diese Anwältin anrufen«, sagte er leise und verließ den Raum, um draußen auf Lübben zu warten. Er konnte nicht sagen, warum, aber irgendwie ging ihm dieser Fall an die Nieren. Distanz, beschwor er sein Mitgefühl, das ist ein Fall wie jeder andere.
    * * *
    »Boah, das zieht ja vielleicht«, klagte Marilene, sobald sie den Fahrstuhl im Turm der St.-Petri-Kirche verlassen hatten, und zog ihre Jacke enger um sich. Sie hatten Leander Tewes nicht zu Hause angetroffen, dafür allerdings eine hilfsbereite Nachbarin, die ihn auf dem Handy erreicht hatte. Bis zu ihrem Termin mit ihm blieb ihnen noch eine halbe Stunde Zeit, und dieser Exkurs war Gerrits Vorschlag zur Überbrückung gewesen: Sightseeing für Eilige. Nach dem verboten leckeren »Süßkram« vorhin hätte es ihr gut angestanden, die Treppe zu nehmen, doch diese Höhe überstieg ihren ohnehin kärglichen sportlichen Ehrgeiz bei Weitem. Sie hatte überhaupt nur eingewilligt, weil sie annahm, der Hausherr würde einen Absturz schon nicht zulassen, doch während der ruckeligen Fahrt hatten sie heftige Zweifel beschlichen. Runter würde sie auf jeden Fall laufen. Der Ausblick allerdings war die Sache wert, das musste sie

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