Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben
Tewes schüttelte nur den Kopf.
»Befindet sich außer Ihnen beiden noch jemand im Haus?« Lübben wirkte begierig, mit der Suche zu beginnen.
»Nee, nur wir zwei«, sagte Antonia, »fast wie früher.« Es lag Sehnsucht in ihrer Stimme.
Ihre Mutter reagierte nicht, war bereits Lübben auf den Fersen, der Richtung Wohnzimmer steuerte und gerade fragte, ob sie im Besitz eines Führerscheins sei. Sie verneinte, sie brauche kein Auto, ein Fahrrad tue es auch.
»Das Auto ist das einzig Gute an Frank«, flüsterte Antonia, »aber verraten Sie mich nicht.«
»Meine Lippen sind versiegelt«, flüsterte Zinkel theatralisch. »Gehen wir nach oben?«
»Oh Mann, wollen Sie etwa auch in mein Zimmer? Ich hab nicht aufgeräumt, ich meine – überhaupt nicht.«
»Macht nichts, ich sag’s nicht weiter«, versprach Zinkel. »Sag mal, hast du ein Foto von deinem Vater?«
Antonia zögerte und atmete tief ein, bevor sie schließlich nickte. »Doch, schon, ich such Ihnen eins raus.« Sie öffnete die Tür zu ihrem Zimmer und stürzte sich auf verstreut herumliegende Dessous, die eine Unterkühlung nicht mal im Hochsommer verhindern würden. Hochroten Kopfes drückte sie sich an ihm vorbei und ließ die Wäsche im Badezimmer gegenüber verschwinden.
Zinkel tat so, als bemerkte er nichts, und widmete sich der Aussicht, bis Antonia zurückkam.
»Ein Foto, ja.« Sie ging zum Kleiderschrank und öffnete ihn.
Zinkel beobachtete, wie sie sich, auf Zehenspitzen balancierend, nach einem Schuhkarton im oberen Fach streckte. Sie reichte mit dem Zeigefinger der rechten Hand gerade so eben unter den Rand des Deckels und zog daran, zu heftig allerdings: Der Karton mutierte zum Wurfgeschoss und flog über sie hinweg, direkt auf ihn zu. Er riss die Arme hoch, Elfmeter, schoss es ihm durch den Kopf, nie gehalten, doch diesmal gelang, was ihm in seiner kurzen Torwartkarriere stets verwehrt gewesen war. Er hielt.
Antonia fuhr herum. »Ups, sorry«, murmelte sie, nahm ihm den Karton ab und öffnete ihn, ohne seine Blitzreaktion in irgendeiner Weise zu würdigen.
Er enthielt tatsächlich Schuhe, deren Knochenbrecher-Absätze Zinkel einer Tochter nicht gestatten würde zu tragen, die jedoch zusammen mit den Dessous die Phantasie außerordentlich beflügeln würden, sähe er beides an einer erwachsenen Frau. So hob er lediglich die Brauen, während Antonia die unter dem Seidenpapier versteckten Fotos hervorzog und ihm reichte.
Er fächerte die Bilder auf: ein Picknick im Grünen, verwackelt und mutmaßlich von Antonia fotografiert, Urlaub am Meer, Vater und Tochter sandverkrustet beim Burgenbau, Antonia unterm Weihnachtsbaum, großäugig ihren Vater anstrahlend, der anscheinend dem Weihnachtsmann seinen Job streitig gemacht und allergrößte Wünsche erfüllt hatte. Glückliche Familie allenthalben, die Aufnahmen wirkten nicht gestellt. Dennoch, auf Fotos gebannte Augenblicke erzählten nie die ganze Geschichte, und das vermeintliche Glück, Lächeln!, mochte einzig der Linse geschuldet sein. Er blickte auf und sah, dass Antonia mit Tränen kämpfte.
»Wir waren echt glücklich«, flüsterte sie.
Glück machte ihn misstrauisch, jedenfalls im Zusammenhang mit ungeklärten Todesfällen. »Hast du wirklich keine Ahnung, warum er euch verlassen haben könnte?«, fragte er.
Sie schüttelte mit einer knappen Bewegung den Kopf, so, wie man eine herumschwirrende lästige Fliege zu verscheuchen suchte.
Zinkel glaubte ihr nicht, weder, dass sie es nicht wusste, noch, dass er überhaupt ausgezogen war. Ein Märchen das Ganze, die Mär von einem, der auszog, nicht das Fürchten, sondern gleich das Sterben zu lernen, spann er den Gedanken fort. Für Märchen hatte er nichts übrig. Er ging davon aus, dass Körbers Auszug im eigentlichen Sinne nie stattgefunden hatte, sondern nachträglich inszeniert worden war. Und das konnte eigentlich nur Lilian Tewes ausgeführt haben, mit wessen Hilfe auch immer.
»Gab es Streit?«, fragte er und begann, den Schreibtisch zu durchsuchen.
»Nie«, behauptete Antonia. »Ich glaube, mit Christian konnte man gar nicht streiten, dafür war er viel zu sanft irgendwie. Bei ihm hatte man das Gefühl, dass man ganz wichtig ist, auf jeden Fall wichtiger als er selbst. Komisch, dass ich das erst jetzt richtig merke. Wahrscheinlich nur, weil Frank so anders ist. Na ja, ich war noch klein damals, da ist das vielleicht normal, wenn man sich für den Mittelpunkt des Universums hält. Vielleicht lag’s also gar nicht an Christian,
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