Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben
wiedergesehen.«
»Wie bitte?« Marilene glaubte, sich verhört zu haben.
»Voll krass«, murmelte Gerrit.
Tewes schnaubte. »So kann man das auch ausdrücken. Sei’s drum, Lilian ist im Herbst in die Schule gekommen, ich war im Ausland. Nicht in England. Oder New York. Wien. Das wäre zu normal gewesen, nicht wahr? Nein, ich war praktisch überall, hier ein Gastspiel, dort ein Auslandssemester und wieder woanders irgendeine Koryphäe, die sich bereit erklärt hatte, mich zu unterrichten. Mich abzurichten, könnte man genauso gut sagen, denn es gab nichts anderes mehr für mich als Musik. Ich habe ihr Postkarten geschrieben, diese Mir-geht-es-gut-wie-geht-es-dir-Karten ohne Sinn und Verstand, und manchmal bekam ich auch eine, zumeist ihre Fortschritte in der Schule betreffend oder den Gesundheitszustand ihrer Stofftiere.« Ein winziges Lächeln huschte über sein Gesicht. »Zu telefonieren konnte ich mir nicht leisten, das war irrsinnig teuer damals, so was wie Skype war noch nicht mal angedacht, und wenn ich es doch mal versucht habe, war sie grad nicht da. Behauptete meine Mutter.«
»Aber das stimmte nicht?«, versuchte Marilene, die Geschichte voranzubringen.
»Im Prinzip schon, nur hätte sie mir sagen müssen, warum sie nicht da war. Sie lag nämlich fast ein Jahr in einer Klinik. Ich hätte wissen müssen, dass etwas nicht stimmte, denn ihre Postkarten sind ausgeblieben, aber ich habe nicht nachgebohrt, und das kann ich mir bis heute nicht verzeihen. Ich habe einfach gedacht, Lilian hätte kein Interesse mehr an ihrem großen Bruder, Fernbeziehungen funktionieren ja schon bei Erwachsenen selten, ein Kind, so dachte ich, lebt noch viel mehr im Hier und Jetzt, aus den Augen, aus dem Sinn?«
»Was hatte sie denn?«, fragte Gerrit.
Tewes hob entschuldigend beide Hände. »Ich weiß es nicht? Natürlich hab ich gefragt, aber meine Mutter hat jedes Gespräch abgeblockt, es gehe ihr wieder gut? Ich habe nicht nachgehakt?«
Wieso verkam nun jeder seiner Sätze zu einer Frage, wunderte Marilene sich. »Da war sie also sieben oder acht, richtig? Dann ist sie doch sicherlich noch etwa zehn Jahre zu Hause geblieben, bevor sie aus Neustadt weggezogen ist, und trotzdem haben Sie sie nie wiedergesehen?«
»Lilian ist ins Internat gekommen, direkt nachdem sie aus der Klinik entlassen wurde, ein allgemeines ohne musikalischen Schwerpunkt, dafür sei sie gesundheitlich dann doch zu instabil, hieß es. Aber sie soll sich gut eingelebt haben, behauptete meine Mutter jedenfalls. Ich habe ihr geglaubt, ich war zu jung, um es nicht zu tun, um zu hinterfragen, ob das erzwungene Miteinander wirklich das Richtige ist für ein Mädchen, das quasi als Einzelkind aufgewachsen ist. Ich habe es sogar noch geglaubt, als ich ein paar Jahre später zufällig ein Gespräch meiner Eltern mitgehört habe. Mein Vater hat meine Mutter gefragt, ob die Spende für Lilians Schule nicht etwas zu üppig ausgefallen sei. Meine Mutter entgegnete, dass seine Tochter dann das Abitur vergessen könne, sie sei nun mal nicht die Hellste. Auf meine Nachfrage hat sie mir Lilians Zeugnisse gezeigt, und die waren wirklich erbärmlich. Schade, hab ich gedacht, mehr eigentlich nicht.« Tewes verfiel in klägliches Schweigen.
»Wie ging’s dann weiter?«, fragte Gerrit.
Tewes schüttelte den Kopf, als könne er sich so von seinen Selbstvorwürfen befreien. »Oh, sie hat das Abitur schließlich geschafft, wenn auch gerade so. Danach ist sie zurück nach Hause und hat irgendeinen Job angenommen. Mutter war dagegen, sie hat heftig gezetert, es muss wohl sehr wenig standesgemäß gewesen sein, aber dieses eine Mal hat Lilian sich durchgesetzt. Gut für sie, habe ich gedacht. Ich war zu der Zeit in Japan und hatte noch über ein Jahr vor mir, und danach würden wir neu anknüpfen können. Doch als ich zurückkam, war sie fort.« Wieder verstummte Tewes.
»Krank? Ausgezogen? Was soll das heißen?« Allmählich verlor Marilene die Geduld.
»Ich habe nie herausgefunden, was passiert ist. Es muss etwas Drastisches gewesen sein, denn Mutter hat sie rausgeworfen und jede Erklärung verweigert. Sie hat einen eisernen Willen und tut bis heute so, als hätte Lilian nie existiert.«
»Und Ihr Vater hat das mitgemacht?« Marilene konnte es kaum fassen.
»Mein Vater war ein schwacher Mensch, vielleicht sogar noch schwächer als ich, und das will was heißen.« Tewes deutete ein verlegenes Lächeln an. »Gegen meine Mutter hatte er keine Chance. Ich glaube, er hat
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