Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben
nachher unbedingt noch ins Café Niederegger, egal, ob Sie Marzipan mögen oder nicht. Da durch.« Er deutete hinter sich, während er sich an einem freien Tisch unter den Arkaden niederließ.
»Oh ja, können wir?« Gerrit flehte regelrecht.
»Meinetwegen.« Marilene täuschte Entgegenkommen vor, während sie tatsächlich überhaupt nichts gegen diesen Abstecher einzuwenden hatte, auch wenn er zur Folge hätte, dass sie in nächster Zeit ihre Waage nur ohne Brille betreten könnte, wollte sie einen Schock vermeiden. Vorbeugend begnügte sie sich darum jetzt mit Kaffee, wohingegen Tewes ein Stück Torte orderte, und Gerrit war ohnehin noch weit entfernt von mittelalterlichen Gewichtsproblemen und schloss sich an.
»Um es vorwegzusagen: Ich weiß nicht, wo meine Schwester heute lebt«, hob Tewes an, sobald ihre Bestellung gebracht worden war, »aber vielleicht kommen Sie weiter, wenn Sie das Wenige über Lilian beziehungsweise unsere Familie erfahren, wovon ich Kenntnis habe.« Er blickte Marilene fragend an, wie um sicherzugehen, dass sie das wirklich erfahren wolle.
Marilene nickte ermunternd.
»Lilian ist zehn Jahre jünger als ich, das heißt naturgemäß, dass ich mich als Kind nicht sonderlich für sie interessiert habe. Sie war ein hässlicher Wurm anfangs, das können Sie mir glauben, und ich fand alles, was in das Baby hineingestopft wurde und was dann aus ihm herauskam, ausgesprochen unappetitlich. Ich bin ihr aus dem Weg gegangen, was nicht weiter schwierig war, da ich ohnehin nur in den Ferien zu Hause war, und das nicht mal regelmäßig. Verstehen Sie, ich habe schon früh mein eigenes Leben gelebt, ein Leben für die Musik, da war kein Raum für irgendjemanden, schon gar nicht für ein Kleinkind, mit dem man nicht mal reden konnte. Das hat sich erst geändert, als sie fünf oder sechs war, glaube ich: Ich war ein ganzes Jahr lang nicht zu Hause gewesen, und als ich zurückkam, fand ich ein sehr einnehmendes, wahnsinnig hübsches kleines Mädchen vor, das obendrein über eine ganz unglaubliche Stimme verfügte.«
Tewes rührte gedankenverloren in seinem Kaffee und merkte augenscheinlich nicht, wie sich allmählich ein See um die Tasse herum bildete. »Ich sehe es noch vor mir, als wäre es erst gestern gewesen, wie ich die Treppe hochkomme, die Tür zu ihrem Zimmer stand offen, das Radio spielte laut It’s a Heartache , und dieses Kind stand mitten im Raum, durchs Fenster ergoss sich das Sonnenlicht über sie, und sie sang mit geschlossenen Augen, sie kann eigentlich nicht gewusst haben, was sie da sang, aber sie tat es mit solcher Inbrunst, dass man hätte meinen können, der Text sei allein für sie geschrieben. Ich blieb stehen, rührte mich nicht vom Fleck, und dann kam If You Can’t Give Me Love . Ich war hingerissen. Ein solches Talent. Unglaublich. Oh.« Tewes hielt inne und kratzte sich verlegen am Kopf, bevor er nach einer Serviette griff und das unerklärliche Malheur hastig beseitigte, so fahrig, als warte er auf einen Tadel.
»In jenem Sommer haben wir fast ständig musiziert«, fuhr er schließlich fort. »Ich habe Lilian in die Welt der klassischen Musik eingeführt, Schubert, Schumann, Brahms, die Richtung, aber natürlich habe ich ihr auch den Gefallen getan, ein paar Hits einzustudieren. Ihre Auffassungsgabe war enorm und ihr Gehör absolut. Sobald sie lesen könnte, würde ihr Repertoire grenzenlos werden, dessen war ich mir sicher.« Sein Gesicht verfinsterte sich, und er schwieg.
»Was ist passiert?«, fragte Marilene.
»Noch gar nichts«, erwiderte er. »Natürlich lag ich meinen Eltern in den Ohren, ihr Talent zu fördern. Mein Vater nickte eifrig dazu, während meine Mutter ablehnte, ein Musiker in der Familie reiche, wenn überhaupt, dann später. Es schien Lilian nichts auszumachen. Sie versicherte mir, sie könne ja weiterhin zum Radio singen, das sei schon in Ordnung. Sie wollte mich trösten, dabei hätte es umgekehrt sein müssen. Schließlich ist ihr eine Tür vor der Nase zugeschlagen worden, nicht mir. Mir stand die ganze Welt offen. Dass die Welt zu viel sein kann, habe ich damals nicht gewusst. Für mich war es der falsche Weg, für Lilian, dessen bin ich mir sicher, wäre er genau richtig gewesen.«
»Inwiefern?« Marilene wünschte, er würde allmählich zur Sache kommen, statt sich nur in vagen Andeutungen zu ergehen.
Tewes winkte ab. »Unwichtig. Heute weiß ich das.« Er holte tief Luft, wie um sich zu sammeln, und fuhr fort: »Ich habe Lilian nie
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