Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben
zugeben.
Türme und Brücken prägten das Bild Lübecks, und ein Meer von Dächern breitete sich vor ihr aus, leuchtend rot im Sonnenlicht, wie frisch gewaschen, hier und da durchbrochen von prunkvoll klerikalem Grün oder stumpfem Schwarz. Die Dachflächen stürzten auf schmale Gassen, Höfe und Plätze zu, auf denen buntes Treiben herrschte, und quälte sich nicht nahezu überall Verkehr durch die Straßen, gäbe es nicht etliche Bausünden und -stellen, wähnte man sich hier auf der Altstadtinsel im Mittelalter. Eine Stadt zum Wiederkommen, fand Marilene und bedauerte, dass sie zu wenig Zeit hatten, um aus der Nähe zu bewundern, was sich von hier aus nur erahnen ließ.
»Guck mal«, rief Gerrit von der anderen Seite des Turms, »da ist das Holstentor.«
Marilene ging hinüber. Seiner Erklärung hätte es nicht bedurft, das Bauwerk war eines, das man überall kannte, jedenfalls wenn man Marzipan mochte. »Das ist ja viel kleiner, als ich angenommen hab«, sagte sie. »Sieht irgendwie unecht aus, finde ich.«
»Das ist mit Sicherheit kein Pappmaschee«, versicherte Gerrit, »sonst könnten wohl kaum Leute ein und aus gehen.«
»Aufgezogene Spielzeugfiguren«, widersprach sie, »reine Kulisse für Zeichentrickfilme.«
»Du meinst animierte Filme«, korrigierte Gerrit und deutete Richtung Trave. »Siehst du die Brücke da? Da müssen wir rüber. Das ist die Professorenbrücke, die führt geradewegs zur Musikhochschule.«
Marilene blickte auf ihre Armbanduhr. »Dann lass uns jetzt mal los«, drängte sie und ging voran.
»Wieso nehmen wir nicht den Aufzug?« Gerrit polterte hinter ihr drein.
»Hast du was gegen sportliche Betätigung?«
»Das ist kein Sport, sondern Tortur«, entgegnete er. »Gib’s zu, du hast einfach Schiss, das hab ich dir schon vorhin an der Nasenspitze angesehen. Apropos Tortur, im Holstentor kann man eine Folterkammer besichtigen …«
»Danke, kein Bedarf«, unterband Marilene die jugendliche Lust am Grusel und konzentrierte sich fortan darauf, den einsetzenden Drehwurm zu bändigen und ihre protestierenden Wadenmuskeln zu ignorieren. Als sie schließlich ins Freie traten, hatte sie jegliche Orientierung verloren.
»Hier geht’s lang.« Gerrit ergriff ihren Arm und zog sie mit sich.
»Hübsch«, bewunderte Marilene die Giebelhäuser in der Großen Petersgrube, in deren Fenstern sich Himmel und Backstein spiegelten, sodass die Fassaden wirkten wie surrealistische Gemälde.
Sie wurden bereits erwartet. Vor dem Portal der Musikhochschule stand ein Mann im dunklen Anzug und blickte suchend um sich.
»Professor Tewes?«, fragte Marilene.
»Ganz recht.« Er reichte ihr die Hand, feingliedrig und zart, jedoch mit überraschend festem Druck.
Pianistenhände, dachte Marilene und unterwarf ihn einer schnellen Musterung. Die Familienähnlichkeit war unverkennbar, er war hager und eher lichtscheu, und was an seiner Mutter weiß war, ging bei ihm gerade noch als blond durch. Trotz seiner Größe von geschätzten eins neunzig hielt er sich ebenso aufrecht wie sie, hatte womöglich als Kind mit einem Buch auf dem Kopf auf und ab gehen müssen, bis in Fleisch und Blut überging, was nun so mühelos wirkte.
»Marilene Müller«, stellte sie sich vor, »das ist mein Assistent, Gerrit Baron. Wie ich schon sagte, bin ich auf der Suche nach Ihrer Schwester Lilian. Können Sie mir da weiterhelfen?«
»Eine Erbschaft, ja? Meine Mutter hat mich bereits vor Ihnen gewarnt.« Der klare Blick seiner blauen Augen bekam etwas Funkelndes.
Marilene hob überrascht die Brauen. »Und da sprechen Sie trotzdem mit mir?«
Tewes lachte, ein volles, wohlklingendes Lachen. »Gerade deswegen«, sagte er. »Es ist an der Zeit, und Sie schickt vielleicht die Vorsehung, eine Kategorie, in der ich normalerweise nicht denke. Gehen wir ein Stück? Mir ist nach Kaffee«, sagte er und eilte mit langen Schritten voran.
Gerrit warf ihr einen Hast-du-nur-mir-zu-verdanken-Blick zu, bevor er hinterhersprang, eifrig wie ein junger Hund. Marilene bildete die Nachhut und hoffte, dass die beiden sich gelegentlich umdrehten, bevor sie noch verloren ginge im Schönwettergewimmel dieser Stadt. Ihre Füße wollten eigentlich nicht mehr laufen, und sie fiel allmählich zurück, doch Tewes’ heller Haarschopf lotste sie voran, bis sie schließlich den Marktplatz erreichten, den sie vorhin von oben bewundert hatte.
»Rathausplatz«, sagte Tewes, sobald sie aufgeschlossen hatte, »und falls Sie noch nicht dort waren, müssen Sie
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