Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben
Haar und wandte sich an die Polizisten: »Ich hoffe, Sie kriegen das Schwein!«
Und weg war er. Das hätte er sich eigentlich auch sparen können, fand Lilian und fühlte sich im Stich gelassen.
Antonia rannte ins Haus und kam mit ihrer Jacke zurück. »Ich hasse dich«, zischte sie im Vorbeigehen.
* * *
Antonia stürmte voran, ohne zu überlegen, wohin, Hauptsache weg von hier. Weg von der Gewissheit, dass alles Hoffen umsonst gewesen war.
Gerrit holte sie ein und reichte ihr stumm ein Taschentuch. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie weinte. Natürlich weinte sie. Was denn sonst?
Sie wünschte, Frank wäre geblieben, und konnte sich selbst nicht verstehen. Aber er war gestern Abend so einfühlsam gewesen, das hatte sie ihm echt nicht zugetraut, und in der Nacht hatte er gleich mehrmals nach ihr gesehen. Sie hatte sich ganz unerwartet geborgen gefühlt. Vielleicht hatte sie ihm unrecht getan mit ihren Vorurteilen, er verstand durchaus, was Kathrin ihr bedeutete, und hatte sich bloß Sorgen gemacht wegen der Verhältnisse, in der sie lebte.
Ganz anders als ihre Mutter, die immer nur Angst um sich selber hatte. Ihre Mutter, die schuld war an dem, was passiert war. Egal, ob Selbstmord oder Mord, ihre Mutter hätte es verhindern können. Verhindern müssen. Dumme Kuh!
Kathrin. War. Tot. Das war nicht zu fassen, kam ihr wie ein Alptraum vor, aus dem sie irgendwann aufwachen würde. Jetzt heulte sie schon wieder. Ungehalten wischte sie die Tränen fort, aber es wollte einfach nicht aufhören. Gerrit reichte ihr das nächste Taschentuch.
Es tat so verdammt weh. Wenn sie nur daran dachte, dass sie nächste Woche wieder in die Schule musste, wurde ihr ganz schlecht. Ohne Kathrin, wie sollte sie das überstehen? All die Pläne, die sie für später gemacht hatten, sie waren mit ihr gestorben. Ihr ganzes Leben wurde gerade auf den Kopf gestellt, und sie fühlte sich hilflos und allein. Sie tat sich selbst schrecklich leid, und das ging eigentlich gar nicht. Dann wär sie kein bisschen besser als ihre Mutter. Und das wollte sie nun wirklich nicht: sein wie ihre Mutter.
Sie wurde langsamer und drehte sich nach dem Polizisten um, der hinter ihnen herdackelte. »Wie ist sie gestorben?«, fragte sie, wollte sie jedenfalls fragen, sie krächzte und musste sich räuspern. »Wie ist sie gestorben?«, wiederholte sie.
Der Polizist, sie hatte seinen Namen vergessen, blieb stehen und machte den Mund auf und zu, immer wieder, als wüsste er nicht, was er sagen sollte. Er sah aus wie ein Fisch auf dem Trockenen, und fast hätte sie lachen müssen. Bloß nicht, sie biss sich auf die Zunge, die würden sie für übergeschnappt halten.
»Ich weiß nicht, ob ich dir das wirklich sagen sollte.«
»Ich muss es aber wissen«, beharrte sie.
»Sie hing an einem Baum …«
»Nein«, sagte sie, als könnte sie das Bild noch abwehren, das in ihrem Kopf entstand, Kathrin, einen Strick um den Hals, und ihr Gesicht ist ganz blau, und sicherlich hängt ihr die Zunge heraus, Galgenmännchen, das Spiel, das so manche letzte Stunde vor den Ferien ausgefüllt hatte, und den Rest will sie nicht wissen, das kann sie nicht aushalten, zu endgültig, zu grausam. Warum ist sie nicht einfach erschossen worden, machten das die meisten Mörder nicht so? Irgendwie erschien ihr das weniger schlimm, zumindest hätte sie nicht gelitten. Hatte sie gelitten? War es das, was sie vorgehabt hatte, sich aufzuhängen? Warum hatte Eddi dann nicht einfach abgewartet? Oder hatte sie es sich in letzter Minute anders überlegt? Hatte sie gar nicht mehr sterben wollen? Hatte sie sich gewehrt? Oh Gott, sie griff sich an den Hals, verdrehte den Kopf, zu eng, zu verdammt eng! Sie schnappte verzweifelt nach Luft, und der Boden kippte weg.
* * *
Mist! Zinkel stürzte auf sie zu, er hatte gewusst, dass es keine gute Idee war, ihr die genauen Umstände zu verraten, aber was hätte er denn machen sollen? Gerrit war schneller und fing sie gerade noch auf.
»Da vorn ist eine Bank«, er wies mit dem Kinn hinter Gerrit. Sie schleppten Antonia gemeinsam dorthin und legten sie vorsichtig ab. Blass war sie, aber sie atmete gleichmäßig. Zinkel war ratlos, heutzutage hatten Frauen nicht mehr einfach ohnmächtig zu werden, das war etwas, was er mit Filmen verband, mit korsettgeschnürten Südstaatenschönheiten, die sich angesichts eines nackten Mannes lieber in eine Ohnmacht flüchteten, statt sich den Tatsachen des Lebens zu stellen. Und dann kam einer, der Riechsalz dabeihatte.
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