Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben
Er tastete seine Taschen ab, kein Riechsalz. Aber ein Handy. Er zog es hervor und wollte gerade die Notrufnummer wählen, da schlug sie die Augen auf.
»Was ist passiert?« Ihre Stimme klang zittrig.
»Du bist umgekippt«, sagte er, »ich ruf einen Notarzt.«
»Nein, bitte nicht, mir geht’s schon wieder gut«, bat sie und setzte sich demonstrativ auf.
Zinkel zögerte. Sicher war es nur der Stress, trotzdem wollte er kein Risiko eingehen. Er hielt ihr die Hand vors Gesicht, beugte den kleinen Finger, der Ringfinger zog automatisch nach, komisch, dachte er, früher war ihm das gelungen, egal. »Wie viele Finger?«, fragte er.
Antonia legte den Kopf schräg, als müsste sie überlegen, »Na zwei, plus Daumen«, bewältigte sie die Aufgabe.
»Und wie heiß ich?« Ach wie gut, dass niemand weiß, schweifte er gedanklich ab. Allmählich fand er seine Fixierung auf Märchen bedenklich.
»Hab ich vergessen.« Sie wirkte zerknirscht. »Aber gestern schon. Das da ist Gerrit.«
»Ja, den kenn ich«, entgegnete Zinkel trocken.
»Paul Zinkel«, half Gerrit Antonia aus, »wir kennen uns aus Wiesbaden.«
»Ach, du wohnst gar nicht hier?« Ihr Blick umwölkte sich.
»Noch nicht, aber wer weiß …« Gerrit ließ offen, was einen Umzug befördern mochte.
Zinkel unterband das aufkeimende Techtelmechtel. »Also gut«, lenkte er ein, »kein Notarzt. Kann ich dir jetzt ein paar Fragen stellen?«
»Eddi!« Sie spie den Namen förmlich aus, »das kann nur er gewesen sein. Wenn Sie dabei gewesen wären, als ich bei Kathrin übernachten wollte – er dachte, ein Kerl wär in ihrem Zimmer, dabei war das bloß ich, und dann wollte er, dass ich verschwinde, und er hat Kathrin gewürgt, echt, die hat nur noch geröchelt, und dann hab ich ihm meinen Rucksack an den Schädel gedonnert und ihn verletzt, dadurch hat er Kathrin losgelassen, aber sie wollte nicht mit mir kommen, sie hat gesagt, ich soll abhauen und die Klappe halten. Wenn ich bloß nicht gemacht hätte, was sie gesagt hat, wenn ich sie bloß erreicht hätte danach, Frau Müller wollte nämlich mit ihr reden …«, sie schluchzte, »und dann hätte sie doch ins Frauenhaus gekonnt, und vielleicht hätte Eddi sie gar nicht umgebracht, wenn sie’s nicht selber vorgehabt hätte?«
Sein Leben wäre leichter, wenn alle Zeugen so ausführlich auf noch nicht gestellte Fragen reagierten, fand Zinkel. »Du meinst, er hat quasi die Gelegenheit genutzt?«
»Kann doch sein? Bestimmt hat er geglaubt, dass sie abhauen wollte, also ist er ihr gefolgt und –« Sie brach ab, die Tränen strömten wieder.
Gerrit tätschelte ihr die Schulter und steuerte ein weiteres Taschentuch aus seinem geradezu unerschöpflichen Vorrat bei. Zinkel wunderte sich über solch weise Voraussicht.
»Das klingt schlüssig«, stimmte er zu, obgleich er insgeheim bezweifelte, dass Eddi so gerissen war. Ihm kam er zu primitiv vor, zu direkt. Die leicht gefügig zu machende Schwester würde ihm ziemlich abgehen, auch was diesen unseligen Männerhaushalt betraf. Im praktischen wie auch möglicherweise im hormonellen Sinn. Er hätte also mehr Gründe gehabt, einen Selbstmord zu verhindern, statt einen Mord zu begehen. »Wir werden der Sache auf jeden Fall nachgehen«, sagte er, »aber du hältst dich besser fern von Kathrins Familie, ist das klar?«
Antonia schniefte und deutete ein Nicken an.
Der Versuchung, Eddi den Mord anzuhängen, war nur schwer zu widerstehen, die alte Geschichte von Recht und Gerechtigkeit, und Zinkel musste sich überwinden, nach allen Seiten offenzubleiben. »Du hast auch von Mobbing gesprochen«, sagte er. »Was ist das für eine Geschichte?«
»Na ja, Jenny halt. Die, die ich angeblich geschlagen hab.«
Antonia hörte sich an, als hätte er sie aufgefordert, ihr Zimmer aufzuräumen, was, erinnerte er sich, keine ganz schlechte Idee wäre. Er wartete ab, registrierte am Rande Gerrits halb amüsierten, halb skeptischen Blick. Es funktionierte, natürlich funktionierte es, die meisten Menschen konnten Pausen nicht gut aushalten.
»Ich weiß gar nicht so genau, wann das angefangen hat«, hob Antonia sichtlich widerstrebend an, »wahrscheinlich, als Kathrins Mutter abgehauen ist oder so. Wir waren da schon befreundet, mir war’s egal, was Kathrin für Sachen getragen hat, aber die anderen haben angefangen, blödes Zeug zu reden. Jenny hat’s ihnen vorgesagt, und die anderen haben’s nachgeplappert oder die Klappe gehalten. Gepetzt hat natürlich keiner. Ich hab’s mal versucht,
Weitere Kostenlose Bücher