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Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben

Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben

Titel: Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Sommer
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aber ich hab schnell begriffen, dass keiner wirklich was gegen Jenny unternehmen wollte. Ab und zu mal eine Stunde zum Thema Markenklamotten oder so was, aber nichts, was Konsequenzen gehabt hätte. Also hat Jenny weitergemacht. Kathrin hat immer so getan, als ob ihr das nichts ausmachen würde. Sie wollte lernen, sonst nichts. Streberin, stimmt schon, aber ist das was Schlechtes?« Sie blickte ihn fragend an.
    »Natürlich nicht«, sprang Gerrit für ihn ein und drückte aufmunternd ihre Schulter.
    »Sag das mal laut.« Antonia schnaubte verächtlich. »Jedenfalls«, fuhr sie fort, »sind Kathrins Noten immer schlechter geworden, sie würde sich nicht genug beteiligen, hieß es. War ja auch kein Wunder, wenn auf jede Wortmeldung blöde Bemerkungen gefallen sind, schön leise natürlich, und irgendeiner hat immer gelästert, ganz fies, echt. Im letzten Jahr sind dann auch ihre Klassenarbeiten schlechter geworden. Sie hätte sich das gefallen lassen, aber ich hab sie überredet, dass wir unsere Arbeiten vergleichen, und meistens haben wir kaum Unterschiede gefunden, logisch, wir haben ja auch zusammen gelernt. Dann bin ich zu den Lehrern. Sie haben sich rausgeredet, ›Och, das hab ich übersehen, kann ja mal vorkommen‹«, spottete Antonia, »aber die meisten haben tatsächlich nachgegeben. Wissen Sie, was ich echt zum Kotzen finde? Es braucht scheinbar nur ein paar Leute, die eine schlechte Meinung von jemandem haben, damit das auf den ganzen Rest abfärbt. Sogar auf die Erwachsenen.«
    Zinkel war einigermaßen sprachlos. Natürlich war das Wort Mobbing seit Längerem in aller Munde, aber welche Dimension dahintersteckte, war ihm nicht bewusst gewesen. Ja, Kinder konnten schon mal grausam sein, das war zu seiner Zeit nicht anders gewesen, aber es hatte doch immer irgendwo eine regulierende Instanz gegeben. Hatte es wirklich? Hänseleien waren damals ebenso an der Tagesordnung gewesen. War jemand eingeschritten? Ungerechtigkeiten von Lehrerseite hatte es durchaus auch gegeben, erinnerte er sich und bedauerte nun, die Gründe nie hinterfragt zu haben.
    »Jenny wie weiter?«, erkundigte er sich.
    »Degener.«
    »Und du bist ganz sicher, dass nicht du Jenny das Veilchen verpasst hast?« Zinkel schlug bewusst einen lockeren Tonfall an.
    »Hab ich doch schon gesagt!« Antonias Blick war voller Entrüstung.
    »Kannst du dir vorstellen, dass Kathrin dafür verantwortlich war?«
    Wieder spiegelte ihr Gesicht jeden ihrer Gedanken: erst die Verwunderung ob seiner abenteuerlichen These; dann das Begreifen, dass einer vermeintlichen Lappalie unter Umständen eine ganz andere Bedeutung zukam; und schließlich Abwehr, denn Eddi mit seinen Ungeheuerlichkeiten davonkommen zu lassen, kam nicht in Frage. »Bestimmt nicht«, antwortete Antonia erwartungsgemäß, »wenn sie eine wäre, die schlägt, dann könnte sie sich auch wehren.«
    Zinkel schloss die Augen. Das Präsens, das sich klammheimlich eingeschlichen hatte, war herzzerreißend.
    * * *
    Nebel lungerte hartnäckig und klamm und vertrieb jede Erinnerung an die letzten Tage. Herbst endlich, und so kalt, dass die Menschen sich wieder in dicken Jacken und Schals verkrochen und kaum je aufblickten. Er lugte unter der Krempe seines Hutes hervor und musterte unauffällig die Vorbeieilenden. Niemand achtete auf ihn, wie er entschlossen seinem Ziel entgegenstrebte, ein Mann mit einer Mission, irgendwas Offizielles, wie seine Aktentasche nahelegte, der Anzug samt wehendem Mantel, die altmodische Brille. Überaus seriös.
    Seine Stunde war gekommen, als der Junge das Haus verlassen hatte, eiligen Schrittes und offensichtlich ebenfalls mit einem Ziel vor Augen. Marilene war beschäftigt, mindestens zwei Mandanten harrten ihrer, sie würde vorläufig keine Zeit für Kaffee- oder Zigarettenpausen finden, und allzu lange würde er nicht brauchen. Er erreichte den Nebeneingang, schloss auf und betrat den Flur. Aus der Kanzlei drang leises Stimmengemurmel, und gerade begann das Telefon zu läuten, lange zu läuten, nein, niemand würde dazu kommen, im Haus herumzulaufen.
    Er stieg die steinernen Stufen hinauf in den ersten Stock. Vor ihrer Wohnungstür angekommen, legte er die Aktentasche auf den Boden und holte die Sprühdose Kriechöl hervor. Bei seinem letzten Besuch war ihm aufgefallen, dass das Schloss schwergängig war oder sein Schlüssel nicht ganz akkurat nachgearbeitet, und im Baumarkt hatte ein nassforscher Mitarbeiter ihm empfohlen, es damit zu versuchen. Mit einem Ohr nach unten

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