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Marina.

Marina.

Titel: Marina. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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als eine groteske Maske aus Knochen und bloßliegendem Fleisch.
     
     
    Das renovierte Teatro Real öffnete seine Tore nie. Nach der Tragödie brachte Kolwenik seine Frau in die noch unfertige Villa neben dem Park Güell. Ewa Irinowa setzte nie wieder einen Fuß außer Haus. Die Säure hatte ihr Gesicht vollkommen verätzt und zudem ihre Stimmbänder beschädigt. Es hieß, sie verständige sich mit Hilfe von Notizen auf einem Block und verlasse ihre Gemächer oft wochenlang nicht.
    Zu dieser Zeit begannen sich die Finanzprobleme der Velo-Granell als schwerwiegender abzuzeichnen als angenommen. Kolwenik fühlte sich in die Enge getrieben und ließ sich bald nicht mehr im Betrieb sehen. Man munkelte, er habe sich eine seltsame Krankheit zugezogen, die ihn mehr und mehr ans Haus fessele. Zahllose Unregelmäßigkeiten in der Führung der Velo-Granell und seltsame Transaktionen, die Kolwenik persönlich in der Vergangenheit durchgeführt hatte, kamen ans Tageslicht. Kolwenik, zurückgezogen in seinem Refugium mit seiner geliebten Ewa, wurde zu einer Figur der schwarzen Legende. Ein Aussätziger. Die Regierung enteignete das Konsortium der Gesellschaft Velo-Granell. Die Gerichtsbehörden untersuchten den Fall, der mit einem über tausendseitigen Dossier eben erst seinen Anfang nahm.
    In den darauffolgenden Jahren verlor Kolwenik sein Vermögen. Seine Villa wurde zu einer Burgruine voller Schatten. Die Bediensteten, die monatelang ihr Gehalt nicht mehr bekommen hatten, zogen aus. Nur Kolweniks persönlicher Fahrer hielt ihm die Treue. Alle möglichen haarsträubenden Gerüchte kamen in Umlauf. Man erzählte sich, Kolwenik und seine Frau lebten unter Ratten und schweiften ruhelos in den Gängen dieses Grabes umher, in das sie sich zu Lebzeiten verbannt hatten.
    Im Dezember 1948 verzehrte ein entsetzlicher Brand ihr Anwesen. Wie die Zeitung
El Brusi
schrieb, waren die Flammen bis Mataró zu sehen. Wer sich daran erinnert, versichert, der Himmel über Barcelona sei zu einem scharlachroten Bild geworden, und riesige Aschewolken seien im Morgengrauen über die Stadt gezogen, während die Menge schweigend das rauchende Skelett der Ruinen betrachtet habe. Kolweniks und Ewas Leichen fanden sich verkohlt im Dachgeschoss in enger Umarmung. Dieses Bild erschien auf der Frontseite der
Vanguardia
unter dem Titel »Das Ende einer Ära«.
    Anfang 1949 begann Barcelona die Geschichte von Michail Kolwenik und Ewa Irinowa zu vergessen. Die große Stadt war in unabänderlichem Wandel begriffen, und das Geheimnis um die Velo-Granell gehörte einer legendären Vergangenheit an, die dazu verurteilt war, für immer unterzugehen.

11
    W as mir Benjamín Sentís erzählt hatte, verfolgte mich die ganze Woche wie ein heimlicher Schatten. Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr kam ich zur Überzeugung, dass in dieser Geschichte Teile fehlten. Welche, das war eine andere Frage. Diese Gedanken nagten von früh bis spät an mir, während ich ungeduldig auf Germáns und Marinas Rückkehr wartete.
    Nachmittags nach Schulschluss ging ich zu ihrem Haus, um mich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war. Immer wartete Kafka bei der Eingangstür auf mich, manchmal mit einer erjagten Beute zwischen den Zähnen. Ich füllte seinen Teller mit Milch, und wir plauderten miteinander, das heißt, er trank die Milch, und ich hielt einen Monolog. Mehr als einmal war ich versucht, die Abwesenheit der Hausbesitzer zu nutzen, um alles auszukundschaften, aber ich beherrschte mich. In jedem Winkel war der Widerhall ihrer Anwesenheit zu spüren. Ich machte es mir zur Gewohnheit, den Einbruch der Nacht in dem leeren Haus abzuwarten, in der Wärme ihrer unsichtbaren Gesellschaft. Ich setzte mich in den Salon mit den Bildern und betrachtete stundenlang die Porträts, die Germán Blau fünfzehn Jahre zuvor von seiner Frau gemalt hatte. In ihnen sah ich eine erwachsene Marina, die Frau, zu der sie bereits wurde. Ich fragte mich, ob ich wohl eines Tages fähig wäre, etwas von ähnlichem Wert zu erschaffen. Überhaupt etwas von Wert.
     
     
    Am Sonntag bezog ich Stellung im Francia-Bahnhof. Es dauerte noch zwei Stunden, bis der Schnellzug aus Madrid käme. Ich vertrieb mir die Zeit mit Hin- und Herspazieren. Unter der mächtigen Kuppel versammelten sich Züge und Fremde wie Wallfahrer. Für mich gehörten die alten Bahnhöfe schon immer zu den wenigen magischen Orten, die es auf der Welt noch gab. Hier mischten sich die Geister der Erinnerungen und Abschiede mit dem

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