Marina.
schweigend und gab sie mir dann wieder zurück.
»Michail Kolwenik lebt seit vielen Jahren nicht mehr hier.«
»Kennen Sie ihn denn?«, fragte ich. »Vielleicht können Sie mir helfen?«
Wieder ein langes Schweigen.
»Komm rein«, sagte Benjamín Sentís.
Er war ein korpulenter Mann, der in einem granatroten Flanellschlafrock hauste. Zwischen seinen Lippen hing eine erloschene Pfeife, und sein Gesicht zierte einer dieser Schnurrbärte, die in die Koteletten übergingen, Stil Jules Verne. Die Wohnung lag über dem Dächerdschungel der Altstadt und schwebte in ätherischer Helle. In der Ferne erkannte man die Türme der Kathedrale und dahinter den Hügel des Montjuïc. Auf einem Klavier häuften sich Staubschichten, und der Boden war mit Schachteln voller längst eingegangener Zeitungen übersät. Nichts in dieser Wohnung zeugte von der Gegenwart. Benjamín Sentís lebte im Plusquamperfekt.
Wir setzten uns ins Wohnzimmer, das auf einen Balkon hinausging, und Sentís betrachtete wieder die Karte.
»Warum suchst du Kolwenik?«, fragte er.
Ich beschloss, ihm alles von Anfang an zu erzählen, von unserem Besuch auf dem Friedhof bis zu der seltsamen Erscheinung der Dame in Schwarz an diesem Morgen auf dem Francia-Bahnhof. Sentís hörte mir mit verlorenem Blick zu, ohne irgendeine Regung zu zeigen. Als ich zu Ende erzählt hatte, machte sich ein unbehagliches Schweigen zwischen uns breit. Sentís schaute mich aufmerksam an. Er hatte einen kalten, durchdringenden, einen wölfischen Blick.
»Michail Kolwenik wohnte vier Jahre lang in dieser Wohnung, kurz nachdem er nach Barcelona gekommen war. Da hinten liegt noch das eine oder andere seiner Bücher rum. Das ist alles, was von ihm übriggeblieben ist.«
»Haben Sie vielleicht seine gegenwärtige Adresse? Wissen Sie, wo ich ihn finden kann?«
Sentís lachte.
»Versuch’s doch mal in der Hölle.«
Ich schaute ihn verständnislos an.
»Michail Kolwenik ist 1948 gestorben.«
Wie mir Benjamín Sentís an diesem Morgen erzählte, war Michail Kolwenik Ende 1919 nach Barcelona gekommen. Damals war er knapp über zwanzig; er stammte aus Prag und war auf der Flucht vor einem durch den Ersten Weltkrieg verwüsteten Europa. Er sprach kein Wort Katalanisch oder Spanisch, jedoch fließend Französisch und Deutsch. Er hatte weder Geld noch Freunde oder Bekannte in dieser schwierigen, feindlichen Stadt. Seine erste Nacht in Barcelona verbrachte er im Gefängnis, da er beim Schlafen in einem Hauseingang erwischt wurde, wo er sich vor der Kälte hatte schützen wollen. In der Zelle verpassten ihm zwei des Raubes, Überfalls und der Brandstiftung angeklagte Insassen eine Tracht Prügel mit dem Argument, all der lausigen Ausländer wegen sei das Land auf den Hund gekommen. Die drei gebrochenen Rippen, die Quetschungen und inneren Verletzungen heilten mit der Zeit wieder aus, aber auf dem linken Ohr verlor er für immer das Gehör. »Nervenverletzung«, diagnostizierten die Ärzte. Ein übler Anfang. Doch Michail Kolwenik sagte immer, was schlecht beginne, könne nur noch besser enden. Zehn Jahre später war er einer der reichsten und einflussreichsten Männer Barcelonas.
Auf der Gefängniskrankenstation lernte er den Mann kennen, der mit den Jahren sein bester Freund wurde, einen jungen Arzt englischer Abstammung namens Joan Shelley. Dieser sprach ein wenig Deutsch und wusste aus eigener Erfahrung, was es hieß, sich in einem fremden Land als Ausländer zu fühlen. Dank ihm bekam Kolwenik nach seiner Entlassung eine Anstellung in einem kleinen Unternehmen namens Velo-Granell. Da wurden Orthopädieartikel und medizinische Prothesen hergestellt. Der Marokkokonflikt und der Erste Weltkrieg hatten für diese Produkte einen enormen Markt geschaffen – Legionen von Männern, die zum höheren Ruhm von Bankiers, Kanzlern, Generalen, Börsenmaklern und anderen Vaterlandsvätern für ihr ganzes Leben verstümmelt und im Namen von Freiheit, Demokratie, Reich, Rasse oder Flagge zerstört worden waren.
Die Werkstätten der Velo-Granell lagen neben dem Born-Markt. Die Schaukästen im Inneren mit künstlichen Armen, Augen, Beinen und Gelenken riefen dem Besucher die Zerbrechlichkeit des menschlichen Körpers in Erinnerung. Mit einem bescheidenen Gehalt und der Empfehlung der Firma fand Michail Kolwenik Unterkunft in einer Wohnung der Calle Princesa. Ein gieriger Leser, hatte er in einem halben Jahr gelernt, sich auf Katalanisch und Spanisch durchzuschlagen. Sein
Weitere Kostenlose Bücher