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Marina.

Marina.

Titel: Marina. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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Beginn Hunderter von Reisen an ferne Destinationen und ohne Rückkehr. Wenn ich mich eines Tages verirre, soll man mich auf einem Bahnhof suchen, dachte ich.
    Der Pfiff des Schnellzugs aus Madrid riss mich aus meinen Träumereien. Der Zug fuhr in vollem Galopp in den Bahnhof ein und peilte sein Gleis an; das Ächzen der Bremsen erfüllte die Luft. Seinem Gewicht entsprechend träge kam er zum Stillstand. Die ersten Fahrgäste stiegen aus, namenlose Gestalten. Ich ließ den Blick über den ganzen Bahnsteig schweifen, mein Herz drohte zu bersten. Dutzende unbekannte Gesichter zogen an mir vorüber. Plötzlich wurde ich unschlüssig – sollte ich mich im Tag, im Zug, im Bahnhof, in der Stadt oder im Planeten geirrt haben? Da hörte ich hinter mir eine unverwechselbare Stimme.
    »Das ist aber eine Überraschung, mein lieber Óscar. Man hat Sie vermisst.«
    »Gleichfalls«, antwortete ich und drückte die Hand des alten Malers.
    Marina stieg aus. Sie trug dasselbe weiße Kleid wie am Tag der Abreise. Wortlos und mit strahlendem Blick lächelte sie mir zu.
    »Und wie war Madrid?«, fragte ich ins Blaue hinein und nahm Germán das Köfferchen ab.
    »Wunderbar. Und siebenmal größer als das letzte Mal. Wenn diese Stadt nicht zu wachsen aufhört, wird sie eines Tages über die Ränder der Meseta hinausfließen.«
    In Germáns Stimme war eine prächtige Laune und ungewöhnliche Energie festzustellen. Ich hoffte, das sei ein Anzeichen dafür, dass die Nachrichten des Arztes vom La-Paz-Krankenhaus verheißungsvoll waren. Während er sich auf dem Weg zum Ausgang redselig bei einem verdutzten Dienstmann über die Fortschritte der Eisenbahnwissenschaften ausließ, hatte ich Gelegenheit, mit Marina allein zu sein. Sie drückte mir fest die Hand.
    »Wie ist alles gelaufen?«, flüsterte ich. »Germán wirkt aufgekratzt.«
    »Gut. Sehr gut. Danke, dass du uns abholen gekommen bist.«
    »Danke, dass du zurückgekommen bist. Barcelona hat die letzten Tage sehr leer gewirkt … Ich muss dir eine Menge erzählen.«
    Vor dem Bahnhof hielten wir ein Taxi an, einen alten Dodge, der lauter war als der Schnellzug aus Madrid. Auf der Fahrt die Ramblas hinauf betrachtete Germán die Menschen, Märkte und Blumenstände und lächelte zufrieden.
    »Man kann sagen, was man will, aber eine Straße wie diese gibt es in keiner anderen Stadt der Welt, mein lieber Óscar. Da kann man selbst über New York nur lachen.«
    Marina nickte zu den Bemerkungen ihres Vaters, der nach dieser Reise wie neu belebt und jünger wirkte.
    »Ist morgen nicht Feiertag?«, fragte er auf einmal.
    »Ja«, sagte ich.
    »Dann haben Sie also keinen Unterricht …«
    »Theoretisch nicht.«
    Germán lachte auf, und für eine Sekunde glaubte ich in ihm den jungen Burschen zu sehen, der er vor Jahrzehnten einmal gewesen war.
    »Und sagen Sie, haben Sie morgen schon was vor, mein lieber Óscar?«
     
     
    Um acht Uhr früh war ich bereits bei ihnen, wie mich Germán gebeten hatte. Am Vorabend hatte ich meinem Tutor versprochen, an sämtlichen Abenden dieser Woche doppelt so viele Stunden zu lernen, wenn er mir an diesem Tag, einem Feiertag, freigäbe.
    »Ich weiß ja nicht, was du in letzter Zeit treibst. Das hier ist kein Hotel, aber auch kein Gefängnis. Für dein Verhalten bist du selbst verantwortlich«, sagte Pater Seguí misstrauisch. »Du musst wissen, was du tust, Óscar.«
    Als ich im Haus in Sarriá eintraf, fand ich Marina in der Küche, wo sie einen Korb mit Sandwiches und Thermosflaschen mit Getränken füllte. Kafka verfolgte ihre Bewegungen aufmerksam und leckte sich die Schnauze.
    »Wohin geht’s denn?«, fragte ich neugierig.
    »Überraschung.«
    Kurz darauf erschien Germán, euphorisch und aufgeräumt und wie ein Rallyefahrer aus den zwanziger Jahren gekleidet. Er gab mir die Hand und fragte, ob ich ihm in der Garage helfen könne. Ich nickte. Eben erst hatte ich entdeckt, dass sie eine Garage hatten – in Wirklichkeit sogar drei, wie ich feststellte, als ich mit Germán übers Grundstück ging.
    »Ich freue mich, dass Sie mitkommen können, Óscar.«
    Er blieb vor der dritten Garagentür stehen, einem efeuüberwachsenen Schuppen von der Größe eines kleinen Hauses. Beim Öffnen quietschte der Türgriff. Eine Staubwolke erfüllte den dunklen Innenraum, der aussah, als sei er zwanzig Jahre lang verschlossen gewesen. Das Skelett eines alten Motorrads, verrostete Werkzeuge und gestapelte Kisten, alles unter einer Staubschicht so dick wie ein Perserteppich.

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