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Marina.

Marina.

Titel: Marina. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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vierzig Minuten.«
     
     
    Mit der U-Bahn fuhren wir zur Plaza de Cataluña. Es wurde bereits dunkel, als wir die Treppe zu den Ramblas hinaufstiegen. Weihnachten lag vor der Tür und die Stadt im Glanz der Lichtergirlanden. Die Straßenlaternen zeichneten bunte Muster auf den Boulevard. Zwischen Blumenkiosken und Cafés flatterten Taubenschwärme, es wimmelte von Straßenmusikanten und Animierdamen, Touristen und Provinzlern, Polizisten und Gaunern, Bürgern und Gespenstern aus anderen Zeiten. Germán hatte recht – nirgends sonst auf der Welt gab es eine solche Straße.
    Vor uns erhob sich die Silhouette des Liceo-Theaters. Es war ein Abend mit Operngala, und das Lichterdiadem des Vordachs war an. Auf der anderen Seite des Boulevards erkannten wir an einer Ecke der Fassade den grünen Drachen des Fotos, der die Menge betrachtete. Bei seinem Anblick dachte ich, die Geschichte habe die Altäre und Farbbildchen für den heiligen Georg reserviert, dem Drachen aber sei auf ewig Barcelona zugefallen.
    Dr. Shelleys ehemalige Praxis belegte den ersten Stock eines herrschaftlichen Hauses mit düsterer Beleuchtung. Wir durchquerten ein höhlenartiges Entree, von dem aus in einer Spirale eine gewundene Treppe hinaufführte. Unsere Schritte verloren sich im Echo des Treppenhauses. Die Türklopfer waren schmiedeeiserne Engelsgesichter. Kathedralenartige Dachfenster umgaben das Oberlicht und machten das Haus zum größten Kaleidoskop der Welt. Der erste Stock war, wie immer bei Häusern jener Zeit, nicht der erste, sondern der dritte – nach Hochparterre und Hauptstock gelangten wir zu der Tür, auf der ein altes Bronzeschild verkündete:
Dr. Joan Shelley
. Ich schaute auf die Uhr. Es fehlten noch zwei Minuten bis zu der vereinbarten Zeit, als Marina anklopfte.
     
     
    Zweifellos war die Frau, die uns öffnete, einem Heiligenbild entsprungen. Ungreifbar, jungfräulich und von einem mystischen Hauch umgeben. Ihre Haut war schneeweiß, beinahe durchsichtig und ihre Augen hell bis zur Farblosigkeit. Ein Engel ohne Flügel.
    »Señora Shelley?«, fragte ich wohlerzogen.
    Sie nickte, und ihr Blick glühte vor Neugier.
    »Guten Abend«, setzte ich an. »Mein Name ist Óscar. Ich habe heute Vormittag mit Ihnen gesprochen.«
    »Ich weiß. Kommen Sie, kommen Sie.«
    Nachdem wir eingetreten waren, bewegte sie sich wie eine Tänzerin auf Wolken, im Zeitlupentempo. Sie war von fragilem Körperbau und roch nach Rosenwasser. Ich schätzte sie auf etwas über dreißig, obwohl sie jünger wirkte. Eines ihrer Handgelenke war verbunden, und um den Schwanenhals trug sie ein Tüchlein. Die Diele war eine mit Samt und Rauchglasspiegeln ausgekleidete Dunkelkammer. Die Wohnung roch nach Museum, als wäre die Luft schon seit Jahrzehnten darin gefangen.
    »Wir sind Ihnen sehr dankbar, dass Sie uns empfangen. Das ist meine Freundin Marina.«
    María fasste Marina ins Auge. Immer schon hat mich fasziniert, wie Frauen einander mustern. Das hier war keine Ausnahme.
    »Erfreut«, sagte María Shelley schließlich gedehnt. »Mein Vater ist ein Mann fortgeschrittenen Alters mit ein wenig flatterhaftem Temperament. Bitte ermüden Sie ihn nicht.«
    »Seien Sie unbesorgt«, sagte Marina.
    Sie bat uns herein. Sie bewegte sich tatsächlich mit luftiger Elastizität.
    »Und Sie sagen, Sie haben etwas, was dem verstorbenen Señor Kolwenik gehörte?«, fragte María.
    »Haben Sie ihn denn gekannt?«, fragte ich meinerseits.
    Bei den Erinnerungen an frühere Zeiten leuchtete ihr Gesicht auf.
    »Nicht wirklich, nein … Ich habe aber viel von ihm gehört. Als Mädchen«, fügte sie wie für sich selbst hinzu.
    Die mit schwarzem Samt ausgeschlagenen Wände waren von Heiligen-, Muttergottes- und Märtyrerbildchen bedeckt, Letztere im Todeskampf. Die dunklen Teppiche absorbierten das bisschen Licht, das zu den Ritzen der geschlossenen Fenster hereindrang. Während wir unserer Gastgeberin durch diese Galerie folgten, fragte ich mich, wie lange sie hier schon allein mit ihrem Vater leben mochte. Ob sie je geheiratet und außerhalb der bedrückenden Welt dieser Wände irgendetwas erlebt, geliebt oder gefühlt hatte?
    Vor einer Schiebetür blieb María Shelley stehen und klopfte an.
    »Vater?«
     
     
    Dr. Joan Shelley bzw. das, was von ihm übriggeblieben war, saß unter mehreren Decken in einem Sessel vor dem Feuer. Seine Tochter ließ uns mit ihm allein. Ich versuchte, meine Augen von ihrer Wespentaille abzuwenden, während sie sich zurückzog. Der greise Arzt, in

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