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Marina.

Marina.

Titel: Marina. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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diesem Gebiet war Velo-Granell führend, und von ihren Konstrukteuren zeigte keiner mehr Talent als Michail Kolwenik. Mit der Zeit wurde Shelley Kolweniks persönlicher Arzt. Sowie ihm das Glück lachte, wollte Kolwenik seinem Freund helfen, indem er ihm ein auf das Studium und die Behandlung degenerativer Krankheiten und angeborener Missbildungen spezialisiertes medizinisches Zentrum finanzierte.
    Kolweniks Interesse an diesem Thema ging auf seine Kindheit in Prag zurück. Shelley erzählte uns, Michail Kolweniks Mutter habe Zwillinge gehabt. Der eine, Michail, kam kräftig und gesund zur Welt. Der andere, Andrej, hatte eine unheilbare Knochen- und Muskelmissbildung, die seinem Leben nach nur sieben Jahren ein Ende setzte. Dieses Erlebnis prägte die Erinnerung und in gewissem Sinn auch die Berufung des jungen Michail. Er hatte immer gedacht, mit der angezeigten medizinischen Fürsorge und der Entwicklung einer Technologie, die das ihm von der Natur Versagte hätte ersetzen können, hätte sein Bruder das Erwachsenenalter erreichen und ein erfülltes Leben führen können. Diese Überzeugung brachte ihn dazu, sein Talent in die Konstruktion von Mechanismen fließen zu lassen, die, wie er gern sagte, die von der Vorsehung vernachlässigten Körper »vervollständigten«.
    »Die Natur ist wie ein Kind, das mit unserem Leben spielt. Wenn es seiner zerbrochenen Spielzeuge überdrüssig ist, lässt es sie liegen und ersetzt sie durch andere«, sagte Kolwenik immer. »Es ist unsere Verantwortung, die Teile wieder zusammenzufügen.«
    In diesen Worten sahen einige Leute an Blasphemie grenzende Arroganz, andere aber nichts als Hoffnung. Der Schatten seines Bruders hatte Michail Kolwenik nie verlassen. Er dachte, ein launischer, grausamer Zufall habe beschlossen, ihn leben zu lassen, während sein Bruder schon als vom Tod Gezeichneter zur Welt gekommen sei. Shelley erzählte, deswegen habe sich Kolwenik schuldig und sich von tiefstem Herzen Andrej und all denjenigen verpflichtet gefühlt, die wie sein Bruder mit dem Stigma der Unvollkommenheit geschlagen waren. In dieser Zeit begann Kolwenik Fotos von Ungeheuern und Missbildungen aus aller Welt zusammenzutragen. Für ihn waren diese vom Schicksal verlassenen Wesen Andrejs unsichtbare Geschwister, seine Familie.
     
     
    »Michail Kolwenik war ein brillanter Mann«, fuhr Dr. Shelley fort. »Solche Menschen wecken immer den Argwohn von Leuten, die sich unterlegen fühlen. Der Neid ist ein Blinder, der einem die Augen auskratzen möchte. Alles, was in Michails letzten Jahren und nach seinem Tod über ihn gesagt wurde, waren Verleumdungen … Dieser verdammte Inspektor – Florián. Er verstand nicht, dass er als Marionette benutzt wurde, um Michail zu Boden zu werfen.«
    »Florián?«, fragte Marina.
    »Florián war Chefinspektor der Kripo«, sagte Shelley mit so viel Verachtung, wie seine Stimmbänder hervorbrachten. »Ein Karrierist, ein Mistkerl, der sich auf Kosten der Velo-Granell und Michail Kolweniks einen Namen machen wollte. Mich tröstet einzig, dass er nie etwas beweisen konnte. Seine Verbissenheit setzte seinem Aufstieg ein Ende. Er war es, der sich diesen ganzen Skandal mit den Leichen aus dem Ärmel schüttelte …«
    »Leichen?«
    Shelley verfiel in langes Schweigen. Er sah uns beide an, und das zynische Lächeln kam wieder zum Vorschein.
    »Dieser Inspektor Florián …«, sagte Marina. »Wissen Sie, wo wir ihn finden könnten?«
    »In einem Zirkus, zusammen mit all den anderen Clowns«, antwortete Shelley.
    »Haben Sie Benjamín Sentís gekannt, Doktor?« Ich versuchte, das Gespräch wieder auf das richtige Gleis zu bringen.
    »Aber selbstverständlich. Ich hatte regelmäßig mit ihm zu tun. Als Kolweniks Partner besorgte Sentís den administrativen Teil von Velo-Granell. Ein habgieriger Mensch, der nicht wusste, wo sein Platz auf der Welt war, meiner Meinung nach. Vom Neid zerfressen.«
    »Wissen Sie, dass Señor Sentís’ Leiche vor einer Woche in der Kanalisation gefunden wurde?«, fragte ich.
    »Ich lese Zeitung«, antwortete er frostig.
    »Finden Sie das nicht merkwürdig?«
    »Nicht merkwürdiger als alles andere, was man in der Presse liest. Die Welt ist krank. Und ich werde langsam müde. Sonst noch was?«
    Ich wollte eben etwas wegen der Dame in Schwarz fragen, als mir Marina mit einem verneinenden Lächeln zuvorkam. Shelley griff nach einer Klingelschnur für die Bediensteten und zog daran. Den Blick auf ihre Füße gerichtet, stellte sich María

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