Marina.
ein.
»Diese jungen Leute wollen gehen, María.«
»Ja, Vater.«
Wir standen auf. Ich machte Anstalten, das Foto wieder einzustecken, doch die zitternde Hand des Arztes kam mir zuvor.
»Diese Fotografie behalte ich, wenn es euch nichts ausmacht …«
Danach wandte er uns den Rücken zu und bedeutete seiner Tochter mit einer Handbewegung, uns zur Tür zu bringen. Beim Verlassen der Bibliothek warf ich einen letzten Blick auf den Arzt und sah, dass er das Foto ins Feuer warf. Seine glasigen Augen schauten zu, wie es in den Flammen verbrannte.
María Shelley führte uns schweigend zur Diele und lächelte uns dann entschuldigend zu.
»Mein Vater ist ein schwieriger Mann, aber er hat ein gutes Herz. Das Leben hat ihm viel Verdruss bereitet, und manchmal spielt ihm sein Temperament einen Streich …«
Sie öffnete die Tür und knipste die Treppenhausbeleuchtung an. In ihrem Blick las ich einen Zweifel, als wolle sie uns noch etwas sagen, fürchte sich aber davor. Marina bemerkte es ebenfalls und reichte ihr zum Dank die Hand. María Shelley ergriff sie. Wie kalter Schweiß drang die Einsamkeit aus den Poren dieser Frau.
»Ich weiß nicht, was mein Vater Ihnen erzählt hat«, sagte sie sehr leise und schaute ängstlich hinter sich.
»María?«, war die Stimme des Arztes aus den Tiefen zu hören. »Mit wem sprichst du?«
Ein Schatten überzog Marías Gesicht.
»Ich komm schon, Vater, ich komm schon.«
Sie warf uns einen letzten trostlosen Blick zu und verschwand in der Wohnung. Als sie sich umdrehte, sah ich an ihrem Hals ein kleines Medaillon hängen. Ich hätte schwören können, dass es ein schwarzer Schmetterling mit ausgebreiteten Flügeln war. Doch die Tür ging zu, ohne dass ich Zeit hatte, mich zu vergewissern. Wir blieben auf dem Treppenabsatz stehen und hörten, wie in der Wohnung der Arzt auf einmal mit Donnerstimme seine Wut an der Tochter ausließ. Die Treppenhausbeleuchtung erlosch. Einen Augenblick glaubte ich verwesendes Fleisch zu riechen. Der Geruch kam von irgendwoher im Treppenhaus, als läge im Dunkeln ein totes Tier. Da meinte ich Schritte zu vernehmen, die sich nach oben entfernten, und der Geruch – oder die Einbildung eines solchen – verschwand.
»Lass uns von hier verschwinden«, sagte ich.
14
A uf dem Rückweg zu Marinas Haus bemerkte ich, dass sie mich verstohlen beobachtete.
»Wirst du Weihnachten nicht bei deiner Familie verbringen?«
Ich schüttelte den Kopf, den Blick im Verkehr verloren.
»Und warum nicht?«
»Meine Eltern sind andauernd auf Reisen. Wir verbringen Weihnachten schon seit einigen Jahren nicht mehr gemeinsam.«
Unbeabsichtigt klang meine Stimme scharf und abweisend. Den Rest des Weges legten wir schweigend zurück. Ich begleitete Marina bis zum Gittertor und verabschiedete mich von ihr.
Noch bevor ich im Internat war, begann es wieder zu regnen. Aus der Ferne betrachtete ich die Fensterreihe im vierten Stock. Nur in zweien war Licht. Die meisten meiner Kameraden waren bereits in die Weihnachtsferien gefahren und würden erst in drei Wochen wiederkommen. Es war jedes Jahr dasselbe. Das Internat war verlassen, und nur ein paar Unglücksraben blieben bei ihren Tutoren zurück. Die beiden letzten Schuljahre waren die schlimmsten gewesen, aber diesmal bekümmerte es mich nicht. Tatsächlich war es mir sogar lieber so. Der Gedanke, mich von Marina und Germán zu entfernen, war kaum vorstellbar. Solange ich in ihrer Nähe war, würde ich mich nicht allein fühlen.
Ein weiteres Mal stieg ich die Treppen zu meinem Zimmer hoch. Der Gang war ruhig, verlassen. Dieser Flügel des Internats war menschenleer. Ich vermutete, nur Doña Paula sei noch da, eine Witwe, der die Reinigung oblag und die allein in einer kleinen Wohnung im dritten Stock hauste. Unter mir war das nicht enden wollende Murmeln ihres Fernsehers zu erraten. Ich ging an der Reihe leerer Zimmer vorbei bis zu meinem und öffnete die Tür. Am Himmel über der Stadt brüllte ein Donner, der im ganzen Haus widerhallte. Durch die geschlossenen Fensterläden zuckte der Blitz herein. Angezogen legte ich mich aufs Bett und hörte draußen das Gewitter toben. Ich zog die Nachttischschublade auf und nahm die Bleistiftskizze heraus, die Germán am Strand von Marina gezeichnet hatte. Im Halbdunkel betrachtete ich sie, bis Müdigkeit und dann Schlaf mich übermannten. Die Skizze wie ein Amulett festhaltend, schlief ich ein. Als ich erwachte, war das Porträt nicht mehr in meinen
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