Marina.
dem ich kaum den Mann wiedererkannte, dessen Foto ich in der Tasche hatte, betrachtete uns schweigend. Seine Augen verrieten Argwohn. Eine seiner Hände zitterte leicht auf der Sessellehne. Unter einer Maske von Kölnischwasser stank sein Körper nach Krankheit. Sein sarkastisches Lächeln konnte das Unbehagen nicht übertünchen, das ihm die Welt und sein eigener Zustand einflößten.
»Die Zeit macht mit dem Körper, was die Dummheit mit der Seele macht«, sagte er, auf sich deutend. »Sie lässt ihn vermodern. Was wollen Sie?«
»Wir haben uns gefragt, ob Sie uns von Michail Kolwenik erzählen könnten.«
»Könnte ich schon, aber ich sehe keinen Grund dafür«, sagte der Arzt kurz angebunden. »Seinerzeit ist schon genügend geredet worden, und alles war gelogen. Würden die Leute auch nur ein Viertel so viel denken, wie sie reden, diese Welt wäre ein Paradies.«
»Ja, aber wir sind an der Wahrheit interessiert«, sagte ich.
Der Alte verzog das Gesicht zu einer spöttischen Grimasse.
»Die Wahrheit findet man nicht, mein Junge. Sie findet einen.«
Ich versuchte, gefügig zu lächeln, begann aber zu ahnen, dass dieser Mann tatsächlich nicht im Sinn hatte, seine Zugeknöpftheit aufzugeben. Marina erriet meine Befürchtung und ergriff die Initiative.
»Dr. Shelley«, sagte sie sanft, »zufällig ist uns eine Fotosammlung in die Hände geraten, die Señor Michail Kolwenik gehört haben könnte. Auf einem dieser Bilder sind Sie mit einem Ihrer Patienten zu sehen. Aus diesem Grund haben wir es gewagt, Sie zu belästigen, in der Hoffnung, die Sammlung ihrem rechtmäßigen Eigentümer zurückzugeben.«
Diesmal gab es keinen lapidaren Satz zur Antwort. Der Arzt betrachtete Marina, ohne eine gewisse Überraschung zu verbergen. Ich fragte mich, warum mir keine solche List eingefallen war, und dachte, je mehr Marina die Last des Gesprächs übernehme, desto besser.
»Ich weiß nicht, von was für Fotografien Sie sprechen.«
»Es ist ein Archiv, das von Missbildungen betroffene Patienten zeigt«, sagte sie.
In den Augen des Arztes leuchtete es auf. Wir hatten einen Nerv berührt. Unter den Decken gab es also doch Leben.
»Was bringt Sie auf den Gedanken, diese Sammlung könnte Michail Kolwenik gehört haben?«, fragte er mit gespielter Gleichgültigkeit. »Oder ich hätte irgendetwas damit zu tun?«
»Ihre Tochter hat uns gesagt, Sie beide seien Freunde gewesen«, sagte Marina, vom Thema abweichend.
»María hat die Tugend der Naivität«, unterbrach Shelley sie feindselig.
Marina nickte, stand auf und gab mir ein Zeichen, es ihr gleichzutun.
»Ich verstehe«, sagte sie höflich. »Wir müssen uns geirrt haben. Tut uns leid, Sie belästigt zu haben, Doktor. Gehen wir, Óscar. Wir werden schon herausfinden, wem wir die Sammlung geben müssen.«
»Einen Augenblick.«
Shelley räusperte sich und bedeutete uns, wieder Platz zu nehmen.
»Habt ihr diese Sammlung noch?«
Marina nickte und hielt dem Blick des Alten stand. Auf einmal gab Shelley ein Geräusch von sich, das wahrscheinlich Gelächter war, aber klang, als zerknüllte er alte Zeitungsseiten.
»Wie soll ich wissen, dass ihr die Wahrheit sagt?«
Marina warf mir einen stummen Befehl zu. Ich zog das Foto aus der Tasche und reichte es ihm. Er ergriff es mit seiner zitternden Hand und studierte es ausgiebig. Schließlich wandte er den Blick zum Feuer und begann zu sprechen.
Wie er uns erzählte, war Dr. Shelley Sohn eines britischen Vaters und einer katalanischen Mutter. In einem Krankenhaus in Bournemouth hatte er sich auf Traumatologie spezialisiert. Als er sich in Barcelona niederließ, waren ihm als Fremdem die Türen zu allen gesellschaftlichen Kreisen verschlossen, wo verheißungsvolle Karrieren geschmiedet wurden. Alles, was er bekam, war eine Stelle im medizinischen Trakt des Gefängnisses. Er behandelte Michail Kolwenik, nachdem dieser eine brutale Tracht Prügel hatte einstecken müssen. Damals sprach Kolwenik weder Spanisch noch Katalanisch. Zu seinem Glück konnte Shelley ein wenig Deutsch. Shelley lieh ihm Geld, damit er sich Kleider kaufen konnte, quartierte ihn bei sich ein und half ihm, eine Stelle bei der Velo-Granell zu finden. Kolwenik fasste eine immense Zuneigung zu ihm und vergaß nie seine Güte. Zwischen den beiden entstand eine tiefe Freundschaft.
Später sollte diese Freundschaft auch in beruflicher Hinsicht Früchte tragen. Viele von Dr. Shelleys Patienten benötigten orthopädische Teile und spezielle Prothesen. Auf
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