Marissa Blumenthal 01 - Virus
dem Erreger oder der auslösenden Quelle zu Leibe rücken! Das klang alles recht einfach, aber Marissa wußte, daß es ein verteufeltes Problem war, selbst für jemanden, der zum Beispiel so erfahren war wie Dr. Dubchek.
Marissa wischte ihre feuchte Hand an ihrem Rock ab und nahm dann ihren Bleistift wieder auf. »So«, sagte sie und starrte auf das leere Blatt, »es erfolgten also keine Diagnosen. In welche Richtung aber gingen denn die Vermutungen?«
»In alle«, antwortete Dr. Navarre trocken.
»Grippe?« fragte Marissa und hoffte, daß das nicht übertrieben vereinfachend wirkte.
»Eher unwahrscheinlich«, meinte Dr. Navarre. »Die Patienten haben zwar Atembeschwerden, aber sie sind nicht vorherrschend. Überdies haben bei sämtlichen sieben Erkrankten Blutuntersuchungen auf Grippeviren einen negativen Befund ergeben. Wir wissen nicht, was sie wirklich haben - aber Grippe ist es jedenfalls nicht.«
»Irgendwelche Vermutungen?« fragte Marissa.
»Alle eher negativ«, antwortete Dr. Navarre. »Alles, was wir getestet haben, brachte nur negative Ergebnisse: Blut-, Urin-, Sputum-, Stuhl-, ja sogar Gehirn- und Rückenmarksflüssigkeitskulturen haben nichts erbracht. Wir dachten auch schon an Malaria und haben dagegen behandelt, aber auch hier brachten Blutabstriche kein Ergebnis. Selbst gegen Typhus haben wir Maßnahmen ergriffen, mit Tetracyclin und mit Chloramphenicol, obwohl auch hier die Kulturen negativ waren. Aber der Erfolg blieb ebenso wie bei den Medikamenten gegen Malaria völlig aus - keinerlei Reaktion. Allen Patienten geht es schlechter, ganz egal, was wir unternehmen.«
»Sie haben aber doch sicher irgendeine abweichende Diagnose«, sagte Marissa.
»Natürlich«, antwortete Dr. Navarre. »Es gab verschiedene Gutachten in bezug auf Infektionskrankheiten. Die allgemeine Meinung ist, daß es sich um einen Virus handeln müsse, obwohl der Verdacht auf eine durch Leptospiren hervorgerufene Art von Gelbsucht eine eher vorsichtige Vermutung ist.« Dr. Navarre blätterte in seinen Karteikärtchen und hielt dann eines hoch: »So, hier haben wir die wesentlichen abweichenden Diagnosen: Leptospirose, wie ich sagte; Gelbfieber; Denguefieber; Mononucleose oder, um auf die Grundformen zurückzukommen, jede andere arbo-, entero- oder adenovirale Infektion. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß wir im diagnostischen Bereich ebensowenig Erfolge verzeichnen konnten wie im therapeutischen.«
»Wie lange ist Dr. Richter schon bei Ihnen in Behandlung?« fragte Marissa.
»Das ist heute der fünfte Tag. Ich finde, Sie sollten sich die Patienten einmal ansehen, um einen Eindruck davon zu gewinnen, womit wir es zu tun haben.« Dr. Navarre stand auf, ohne auf Marissas Antwort zu warten; es blieb ihr also gar nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Sie durchschritten eine Anzahl von Schwingtüren und kamen schließlich in den eigentlichen Krankenhaustrakt. Obwohl sie aufgeregt war, empfand Marissa die teuren Teppiche und die fast hotelmäßige Ausstattung beeindruckend.
Marissa betrat den Aufzug hinter Dr. Navarre, der ihr dort einen Narkosefacharzt vorstellte. Sie erwiderte die freundlichen Begrüßungsworte des Kollegen, aber ihre Gedanken waren ganz woanders. Sie war überzeugt davon, daß ihr jetziger Besuch bei den Patienten nichts anderes bewirken würde als nur das eine: daß sie sich bloßgestellt fühlen würde. Dieses Problem hatte sie während des Vorbereitungskurses in Atlanta nie beschäftigt; jetzt aber wurde es bedrückend. Doch was konnte sie denn einwenden?
Sie gingen zunächst ins Schwesternzimmer im fünften Stock, und Dr. Navarre machte sie dort mit den Leuten der Nachtschicht bekannt, die sich gerade auf den Schichtwechsel vorbereiteten.
»Alle sieben Patienten liegen auf diesem Stockwerk«, sagte Dr. Navarre, »und wir haben hier oben unser erfahrenstes Personal. Die beiden in kritischem Zustand sind in Spezialkabinen der Intensivstation untergebracht, gerade gegenüber. Die anderen liegen in Einzelzimmern. Hier sind die Krankenblätter.« Dabei klopfte er mit dem Handteller auf einen kleinen Stoß von Unterlagen, der auf der Deckplatte eines Aktenschrankes lag. »Ich nehme an, daß Sie jetzt Dr. Richter sehen wollen.« Dr. Navarre reichte Marissa die Unterlagen des Patienten.
Als erstes warf sie einen Blick auf die Eintragungen der laufenden Messungen. Für den jetzigen fünften Tag seines Krankenhausaufenthalts stellte sie sinkenden Blutdruck und steigende Temperatur fest. Kein gutes
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