Mark Brandis - Testakte Kolibri
gehörte, hatte es dazu der Einwilligung der Vereinigten Orientalischen Republiken – VOR – bedurft.
Die Werft, die sich im Zentrum des Mare Imbrium erhob, enthielt eine Fülle komplizierter technischer und elektronischer Einrichtungen. Sechsundfünfzig Ingenieure aller Fachrichtungen und fast zweihundertundfünfzig Mechaniker hatten nichts anderes zu tun, als jeden Kolibri , der dort zwischenlandete, auf Herz und Nieren zu prüfen.
Der Mond, der nach der ersten fehlgeschlagenen Kolonisation jahrzehntelang als unnützer Himmelskörper verschrien gewesen war und hinterher, nach der Erbauung von Las Lunas, diesem gewaltigen Vergnügungszentrum, unter dem Ruf des Zweifelhaften und Anrüchigen zu leiden hatte, war über Nacht zu einem unbezahlbaren wissenschaftlichen Stützpunkt geworden.
Mein erster Flug mit einem Kolibri endete so ruhig, wie er begonnen hatte. Es gab keinerlei Zwischenfälle, keine Beanstandungen. Als ich, etwa eine Viertelstunde vor der Landung, VEGA-Luna rief, lag hinter mir eine erholsame, fast langweilige Reise.
» Kolibri Neun an VEGA-Luna. Kommen!«
VEGA-Luna meldete sich so laut und deutlich, als trennte uns voneinander nur ein Katzensprung.
»VEGA-Luna hat Sie gehört, Nummer Neun . Sie sind pünktlich wie ein Maurer. Wie war die Reise? Kommen!«
»Alles verläuft glatt, VEGA-Luna. Mein Kolibri ist der artigste Vogel unter den Sternen. Wenn nichts dagegen spricht, werde ich jetzt landen. Kommen!«
»Die Landung ist freigegeben, Nummer Neun . Die Anflugregeln sind Ihnen bekannt? Kommen!«
»Sie sind mir bekannt, VEGA-Luna, aber ich bitte um Bestätigung. Kommen!«
»Kümmern Sie sich nicht um die abgestellten Schiffe, Nummer Neun . Sie setzen unmittelbar auf dem Landekreuz auf und warten dann mit dem Vonbordgehen, bis Ihre Himmelsmühle unten in der Halle ist. Das ist eigentlich schon alles. Kommen!«
»Roger, VEGA-Luna. Ich setze auf dem Landekreuz auf. Ende.«
Der Landeanflug erfolgte nach dem halbautomatischen System. Da ich in meiner Sicht behindert war, verließ ich mich im wesentlichen auf meine Instrumente. Einige geringfügige Korrekturen knapp über dem Mondboden genügten, und aus dem verzerrten roten X auf meinem Kontrollschirm wurde ein gestochen scharfes Kreuz. Federleicht, ohne die mindeste Erschütterung, setzte der Kolibri auf. Ich schaltete auf Null , und das Triebwerk verstummte. Nach einer Weile wurde es dunkel um mich: der Fahrstuhl hatte sich abwärts in Bewegung gesetzt, über mir fuhren die Schleusentore zu. Die Dunkelheit hielt nicht lange an. Gleißendes Licht fiel plötzlich durch die Bullaugen. Ich war unten in der Halle.
Obwohl von den Erbauern von Las Lunas bewiesen worden war, daß sich auf dem Mond sehr wohl eine regional begrenzte künstliche Atmosphäre schaffen ließ, hatte man sich bei der Konstruktion von VEGA-Luna vom Hallenprinzip leiten lassen. Das war nicht nur billiger, sondern bot überdies den unschätzbaren Vorteil, daß die wertvollen und empfindlichen Anlagen vor dem lunaren Staub geschützt blieben. Der eigentliche Werfttrakt, die Verwaltungsräume und die Wohneinheiten waren unter einem Dach miteinander vereinigt. Darunter sorgte eine Klimaanlage für brauchbare Luft und eine stets gleichbleibende Temperatur von 21 Grad Celsius. Ein kleines Schwerefeld unterband die Bocksprünge, die sonst zum unfreiwilligen Spaß eines jeden Mondwanderers gehörten.
Die ganze Anlage war ebenso sinnvoll wie einfach. Der durch das Kreuz markierte Landeplatz war mit einem Fahrstuhl gekoppelt. Sobald er eingefahren war, riegelte eine Schleuse das Dach wieder ab.
»Willkommen bei VEGA-Luna, Commander!« Im Lautsprecher war es lebendig geworden. »Sie können jetzt von Bord gehen.«
Ich beendete meine Eintragung in die Testakte, warf die Gurte ab und stieg aus.
Ein kleines Heer von Mechanikern stand schon bereit, um Kolibri Neun auseinanderzunehmen, durchzusehen und wieder zusammenzusetzen.
Ein schlanker grauhaariger Mann im weißen Kittel reichte mir die Hand.
»Ich bin Jefferson Greene, der lunare Werftleiter. Es freut mich, daß Ihr Flug so reibungslos verlief, Commander.«
Man freut sich immer, wenn man nach einem astralen Flug wieder festen Boden unter den Füßen hat. Es ist nicht zu leugnen, daß für jeden Testpiloten ein Start immer so etwas wie ein Abschied ist, der leicht zum letzten werden kann. Man liebt seinen Beruf, aber man haßt seine Risiken. Und je größer die Risiken werden, desto mehr hängt man am Leben. Start, das ist
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