Mark Brandis - Testakte Kolibri
Minuten mehr, und es würde mich hinabgedrückt haben auf dreitausendeinhundertundfünfzig Meter.
Zehn Minuten zu leben – zehn Minuten, um zu hoffen und auf die Rettung zu warten, die nicht ausbleiben durfte. Ich konnte beten, über mein Leben nachdenken, einen Brief schreiben oder mich mit Kolibri -Tower unterhalten. Nur eines durfte ich nicht: die Nerven verlieren.
Meine Lage war mißlich, aber sie konnte gemeistert werden: der Stafford-Fall hatte es bewiesen. Nichts konnte mir gefährlicher werden als jede Form der Aufregung.
Noch war es warm und trocken im Schiff; ich konnte es mir leisten, die Stromversorgung abzuschalten, um die Speicher zu entlasten. Die Innenbeleuchtung war entbehrlich. Nur die Kontrollbeleuchtung der Funkanlage glomm weiter, ein grüner Punkt in der Dunkelheit, und auch die glühenden Zahlen fuhren fort, mir die jeweilige Tiefe zu signalisieren.
Kein Rauschen, kein monotones Ping-Ping-Ping. Alles, was ich hörte, war mein eigener Atem. Die Stille war nahezu vollkommen. Bald würde das anders sein – sobald das erste leise Seufzen durch das gequälte Schiff ging. Dagegen ließ sich nichts unternehmen; ich war zur Untätigkeit verurteilt. Allenfalls vermochte ich mit etwas Geschick, das Schiff vorübergehend auf Horizontalkurs zu legen – aber was brachte mir das ein? Es kostete nur Strom, den ich vielleicht noch dringend brauchen würde.
Zweitausendsechshundert Meter. Waren seit meiner Durchsage wirklich nur neunzig Sekunden vergangen? Meinem Gefühl nach wartete ich bereits seit einer Ewigkeit. Oder lag sie etwa vor mir, die Ewigkeit, aus der noch kein Mensch zurückgekehrt war?
Die Stille zerriß.
» Kolibri Zwei , Achtung! Hier spricht Romen. Man hat mich gerade in den Tower geholt. Wir wissen jetzt, wo Sie sich befinden, Commander. Sie haben sich da eine üble Stelle ausgesucht – Meerestiefe fast siebentausend Meter. Wie steht‘s bei Ihnen? Kommen!«
Mein Zigeuner hatte also die Leitung der Bergungsaktion in seine Hand genommen. Bereits seine Stimme zu hören, tat mir gut.
»Die Lage entspricht den Umständen, Kolibri -Tower. Nichts, was sich weiterempfehlen ließe. Ich hänge mit der Nase nach unten und bewege mich langsam, aber sicher auf Tiefe Zwo-Sieben zu. Kommen!«
»Roger, Zwei . Es freut mich zu hören, daß Sie guter Dinge sind. Wir tun, was in unserer Macht steht. Augenblick – ich komme gleich wieder!«
In Gedanken versetzte ich mich in den Tower. Dort liefen jetzt die Drähte heiß. Wie oft schon hatte ich dieses böse Spiel durchexerziert – von jenem gleichen Sessel aus, auf dem jetzt Grischa Romen saß? Der Einsatz hatte seine Namen gehabt: Vargas beim erstenmal, danach Stafford. Stets war ich der Verlierer gewesen. Sollte Romen die glücklichere Hand haben?
Womit war Romen beschäftigt, daß er sich nicht meldete? Es wurde Zeit, daß endlich etwas geschah. Tiefe Zwo-Acht war erreicht. Mein Kolibri begann zu stöhnen. Eine Weile noch mochte das gepeinigte Material standhalten – aber der Druck der Tiefe hatte mit dem Akt der Zerstörung bereits begonnen.
Jetzt konnte ich Vargas und alle die anderen besser verstehen, die es vorgezogen hatten, sich hinauszukatapultieren aus diesem nassen, kalten, lichtlosen Grab in das goldene Reich der Sterne. Wenn dies die einzige Wahl war – wie würde ich mich entscheiden? Bis jetzt hatte ich den Alarmstarter nicht einmal angerührt.
Eigentlich hätte ich frieren müssen, nachdem ich die Heizung abgeschaltet hatte. Die Innenverkleidung der Bordwand fühlte sich eisig an. Mir jedoch war warm; ich schwitzte. So beherrscht und ruhig ich mich auch gab, meine Schweißdrüsen hatte ich nicht unter Kontrolle. Die Angst sickerte mir aus den Poren.
Irgendwo knisterte Papier, zerbrach eine Apfelsinenkiste – aber das waren fromme Lügen, mit denen ich mich nur unzulänglich zu trösten vermochte. Es war das Schiff selbst, das diese Geräusche erzeugte. Die Verbände gaben nach. Und der Meeresgrund lag tief unter mir – zu tief, um mich beizeiten auffangen zu können.
Ein Vers von Boleslaw Burowski kam mir in den Sinn – einer der wenigen, die sich mir eingeprägt hatten, und plötzlich begriff ich, was in der Seele des Dichters vorgegangen sein mochte:
Ein Abgrund ohne Sterne.
Ich aber
der Astronaut
kann ohne Sterne
nicht leben –
selbst wenn ich an ihrem Licht
erblinde.
Eine Prophezeiung, die sich an mir erfüllte? Ich hielt es nicht länger aus und drückte auf die Taste. » Kolibri Zwei . Was ist eigentlich
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