Markus, glaubst du an den lieben Gott? (German Edition)
toll, den kleinen dicken Markus zu betütern. Doch dann kommt der Hunger, wie immer. Ich brülle. Ein bisschen füttern hilft nicht. Nicht mehr. Ich will immer noch und noch mehr! Das können die Mädchen nicht wissen. Die sind ja noch ganz jung.
Die beiden armen Mädchen machen Musik an, tragen mich hüpfend. Beine nach vorne, Kopf nach hinten. So, Markus, jetzt geht’s los. Auf und ab wippend, fliege ich als Torpedo-Geschoss auf dem Arm meiner Schwester durch die zweigeschossige Wohnstatt meiner Kindheit und bekomme einen leichten Hitzestau. Ich lache, juchze, lasse mein kleines Gesicht vor lauter Freude zu einem roten Ballon anlaufen. Plötzlich sehe ich in einem Tunnel ein weißes Licht auf mich zurasen. Da genau muss der Sinn sein, die Freiheit. Nämlich die Nahrung. Oh! Aber der kleine Markus hat die Hosen voll. Und wo ist das Licht geblieben? Wo ist das Licht? Wo ist das Licht? Da! Nein, doch nicht. Es sind Vater und Mutter, sie sind vom Einkaufen zurück. Die Künstlerhände meines Vaters fassen mich sanft, die Lippen meiner Mutter küssen mich fest. Und ich höre ihre Stimmen vertraut flüstern. „Schön warm hat er es, und gut verschnürt ist er!“ Mutter ist gerührt. „Aber Hunger hat er! Unter anderem!“ Näselt Vater. „Hier. Trink, mein Kleiner. Trink. Trink, so viel du willst“, flüstert Mutter. „So ist gut! Schau, er sieht ganz befreit aus.“
Befreit? Keine Ahnung. Ganz ehrlich. Ich weiß bis heute manchmal nicht, was es bedeutet, wirklich frei zu sein. Nicht einfach nur satt. Durch das Torpedo-Erlebnis erreichten mein Geist und meine Körpertemperatur absolute Spitzenwerte! Körper und Geist, seit dem mögen’s beide heiß! Und als großer Junge probiere ich später alles aus, um genau diesen Kick wieder zu spüren. Alles. Erstens, zweitens, drittens – und viertens! Aber das bringt nichts – auf Dauer. Nur fünftens: kalt duschen, das bringt mich ganz weit nach vorne. Jedes Mal. Und es ist billig. Ich habe mit der Zeit sogar gelernt, mein Gehirn separat zu duschen. Im Gebet und einer anschließenden Meditation bringe ich meinen Denkmuskel auf angenehme Betriebstemperatur. Und anschließend kommen Dehnungsübungen. Die sehen bei mir nicht so sexy aus wie bei meiner Yogalehrerin. Ich fühle mich danach aber gelassener als vorher. Es ist herrlich, hin und wieder eine Pause zu machen und die Finger von erstens, zweitens, drittens und viertens zu lassen!
Wieder spreche ich zu mir selbst: „Du machst das gut. Du hast Struktur in deinem Leben gefunden. Du beginnst am Morgen mit dem ‚seelischen Waschen‘. Betest, liest und meditierst. Du hörst zu, wenn dir Gott antwortet. Manchmal ist er ganz leise. Du lächelst.“
Wenn man anders tickt oder eine Verhaltensauffälligkeit hat, die vielleicht etwas mit einem Mangel an Aufmerksamkeit zu tun hat, dann hat man schlechte Karten. Halb so wild! Das ist Übungssache: „Und volle Konzentration! Volle Konzentration! Volle Konzentration!“ Funktioniert nicht? Okay, kann man das vielleicht kaufen? Ich mache mir eine Liste und gehe shoppen: „Ich möchte bitte einmal Konzentrationsfähigkeit! Was kostet das? So viel? Wer macht im Himmel eigentlich die Preise?“ Auf die freche Frage erhalte ich natürlich keine Antwort. „Dann kann ich das leider nicht kaufen. Bitte schauen Sie mal in der Vorsehung nach einem Rabatt.“ Ich verlasse das imaginäre Geschäft, nur mit meiner Liste in der Hand. Jetzt kann ich mich freuen, weil ich vom Lernen befreit werde. Oder mich schwarzärgern, weil ich lernen will, es aber keine passende Schule für mich gibt. Richtig? Nein! Keines von beidem. Ich bin als Kind einfach nur aufgeregt, als ich feststelle, was mir fehlt. Der Fokus auf eine Sache für wenigstens einige Minuten! Innerlich bin ich total durch den Wind. Meine Sinne sind alle auf Empfang gestellt, aber die Welt ist für mich zu schnell. Manchmal, wenn ich als Kind die Augen schließe, habe ich das Gefühl, dass hunderte von Straßen durch mich hindurch jagen. Eine Vorwegnahme meiner Erwachseneneuphorie: an beiden Enden zugleich brennen. Durch den mutigen Einsatz meiner Mutter und die Testergebnisse bei einem weiteren Kinderpsychologen darf ich auf ein Gymnasium, ohne die Empfehlung meines Klassenlehrers aus der Grundschule. Meine Musikalität gibt den Ausschlag. Mir kommt es vor, als wäre ein Wunder geschehen. Die neue Schule macht mir so großen Spaß, dass eine weitere typische ADHS-Symptomatik eintritt: Ich werde einer der Klassenbesten und
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