Marlene Suson 1
Verlegenheit erstarrt war. Sie war hinreißend ge- wesen.
Der Himmel klarte auf, und statt der grauen Regenwolken zo- gen weiße Wattepuffs über ihn dahin. Jerome warf einen Blick zurück nach Wingate Hall. Eine einsame Reiterin näherte sich dem Haus.
Er erkannte Lady Rachel, die offenbar auf dem Heimweg war. Es überraschte ihn, daß sie so früh ausritt. Ohne weiter zu über- legen, spornte er Lightning an und steuerte auf sie zu.
Als er sie erreichte, wandte sie ihm das Gesicht zu. Sie war wirklich das lieblichste Geschöpf, das Jerome in den neunund- zwanzig Jahren seines Lebens begegnet war. Ein unwillkomme- nes Verlangen schoß plötzlich in ihm hoch.
Obwohl sie ihr Pferd zum Schritt zügelte, schien sie nicht er- freut, ihn zu sehen. Sie wirkte vielmehr wie ein kleines Mädchen, das bei einem Streich ertappt worden war. Jerome zog die Zügel
an, und die beiden Pferde gingen in gemächlichem Schritt Seite an Seite weiter.
Jerome bemerkte ihre Ledertasche. Ihm fiel nur ein einziger Grund ein, weshalb eine Frau um diese Tageszeit eine Ledertasche mit sich führen könnte. Aber es war doch wohl kaum möglich, daß Lady Rachel von einem heimlichen Rendezvous zurückkehrte. Schließlich war sie doch eine tugendhafte Unschuld, oder?
„Sie sind aber früh auf‚, eröffnete er die Unterhaltung, unver- kennbaren Argwohn in der Stimme. „Wo sind Sie denn gewesen?‚
Rachel senkte den Blick auf ihre Tasche. „Nirgendwo‚, gab sie zurück, und leise Röte stieg ihr in die Wangen.
„Wo ist nirgendwo?‚ Sein barscher Ton überraschte ihn selbst.
Sie mied noch immer seinen Blick. „Ich ... ich hatte Lust auf einen Morgenritt.‚
Sie war eine schlechte Lügnerin. Was, zum Teufel, verbarg sie vor ihm. Kam sie am Ende doch von einem Schäferstündchen? War es wieder einmal einer schönen Frau gelungen, ihn an der Nase herumzuführen?
Zorn begann in ihm zu brodeln. Bei Gott, er würde erfahren, was sie ihm verheimlichte!
Rachel fragte sich, weshalb der Herzog plötzlich so verärgert wirkte. Sie haßte es, ihn anlügen zu müssen, aber sie wagte nicht, ihm zu sagen, daß sie wieder bei einem kranken Pächterkind ge- wesen war. Womöglich verriet er Sophia, daß sie ihre Anordnun- gen erneut mißachtet hatte.
Außerdem mochte Rachel den Herzog inzwischen. Sie hätte es nicht ertragen, wenn er sich wegen ihres Engagements über sie lustig gemacht hätte, wie es die Freunde ihres Bruders gelegent- lich getan hatten.
„Es überrascht mich, Madam, daß Sie ohne Begleitung aus- reiten.‚
In seiner Stimme schwang ein Unterton mit, den Rachel nicht recht einordnen konnte. Ein wenig verwirrt antwortete sie: „Sie brauchten einen Reitknecht viel nötiger als ich, Euer Gnaden. Sie sind fremd hier, während ich jeden Grashalm kenne. Ich reite seit Jahren allein aus.‚
Der Herzog tippte mit der Reitgerte auf die Ledertasche. „Was ist da drin?‚
Er hob den Blick, und sie war bestürzt über den Argwohn in seinen Augen. „N ... nichts.‚
„Wenn dem so ist, weshalb machen Sie sich dann die Mühe, sie mitzuführen?‚
Rachel spürte, wie die Röte ihrer Wangen sich vertiefte. Für eine Weile hörte man nur das Geräusch des Hufschlags ihrer Pferde. Dann sagte sie nervös: „Dumm von mir, nicht wahr?‚
„Sagen Sie mir, was Sie darin haben‚, befahl er schroff.
Warum in aller Welt war der Inhalt der Tasche so wichtig für ihn? „Das geht Sie nichts an‚, gab sie kurz zurück. „Ich fürchte, Stephen hatte recht. Sie sind unerträglich anmaßend.‚
„Hat er das von mir behauptet?‚ fragte er beiläufig. Es schien den Herzog nicht sonderlich zu treffen, was Rachels verschwun- dener Bruder von ihm hielt.
Das verdroß Rachel, und sie sagte: „Ja. Er mochte Sie nicht.‚
„Das beruhte auf Gegenseitigkeit.‚
Sie versteifte sich, mußte dann jedoch ehrlich zugeben, daß der Herzog lediglich genauso offen mit ihr sprach wie sie mit ihm. „Weshalb mochten Sie Stephen nicht?‚
„Ihr Bruder legte bei weitem mehr Wert auf den Zustand sei- ner Garderobe als auf den seiner Ländereien. Ich habe kein Ver- ständnis für leichtsinnige, verantwortungslose Aristokraten, die nur ihrem eigenen Vergnügen leben und die Pflichten ignorieren, die Rang und Vermögen mit sich bringen.‚
Rachel fuhr herum. So sehr sie Stephen auch liebte, sie mußte zugeben, daß der Herzog recht hatte.
„Haben Sie Ihren Bruder nicht so gesehen?‚ fragte er, da er ihr Schweigen mißdeutete.
„Doch, schon.‚ Rachel
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