Marlene Suson 1
schluckte. Stephen war vielleicht ein wenig unbesonnen, aber im Herzen doch ein guter Mensch. Da- von war sie überzeugt. „Ich ... ich wünschte, Sie hätten meinen Bruder gekannt, als wir noch Kinder waren.‚
Sie blinzelte die Tränen fort, die die Erinnerung an den fröh- lichen, charmanten Stephen ihrer Kindheit ihr in die Augen trieben. Sie hätte sich keinen liebevolleren, besorgteren großen Bruder wünschen können, und sie hatte ihn angebetet. „Nach- dem er die Universität besuchte, hat Stephen sich verändert, und als er seinen Wohnsitz in London nahm, veränderte er sich noch mehr. Er kam ganz einfach in die falsche Gesell- schaft.‚
Papa hatte vor allem Anthony Denton, einen blasierten jungen Tunichtgut, für Stephens Ausschweifungen verantwortlich ge- macht. Das war einer der Gründe, weshalb Rachel Denton nicht
mochte, obwohl er sich ihr gegenüber immer sehr zuvorkom- mend gab.
Wieder etwas zugänglicher, sagte der Herzog: „Um der Wahr- heit die Ehre zu geben, Stephen war ansonsten ein charmanter, recht intelligenter junger Mann.‚
„Ja, und er ist es noch.‚
Rachel betrachtete Westleigh. Er sah so gut aus mit dieser energischen Kinnlinie und dem blonden, windzerzausten Haar, daß ihr Herz schneller schlug. Sie seltsamen Gefühle von gestern waren plötzlich wieder da.
„Gerade die Intelligenz und der Charme Ihres Bruders machten mir am meisten Kopfzerbrechen‚, fuhr der Herzog fort. „Arling- ton hatte das Format, mehr aus sich zu machen. Es waren diese verschwendeten Anlagen, die mich so irritierten.‚
Rachel war es ebenso gegangen. Dennoch hatte sie nie die Hoff- nung aufgegeben, daß Stephen mit der Zeit erwachsen und ver- nünftig werden würde. Sie schaute auf zu einem über ihnen krei- senden Falken und sagte: „Ich liebe meinen Bruder sehr, doch ich muß leider zugeben, daß Sie recht haben. Trotzdem überrascht es mich, daß Sie offenbar anders sind. All seine Freunde waren eher noch ärger als er.‚
„Ich genieße zwar den Vorzug, reich und von Adel zu sein, nehme aber auch die damit verbundene Verantwortung auf mich. Ich habe einmal versucht, Ihrem Bruder den Kopf zurechtzusetzen, und ich glaube, das hat er mir sehr übelgenommen.‚
Ob das wohl der Grund für Stephens Abneigung gegen den Herzog war? Sie betrachtete den neben ihr reitenden Mann mit steigendem Respekt. Nie hätte sie sich träumen lassen, daß sie und der ,hochmütige, arrogante’ Herzog so gleicher Meinung sein könnten. Sie mußte zugeben – er war ein Mann nach ihrem Ge- schmack.
Bei diesem Gedanken wurde ihr das Herz weit. Plötzlich hatte sie das Bedürfnis, sich ihm mitzuteilen. „Papa hat auch oft ver- sucht, Stephen Vernunft zu predigen, aber ohne Erfolg. Das Land- leben langweilte Stephen. Er liebte das ,frivole Leben in London’, wie Papa es nannte. Er fürchtete, daß Stephen unserem Großvater nachgeriet‚, schloß sie mit bekümmerter Stimme.
„Wenn ich Sie recht verstehe, hielt Ihr Vater das nicht für ein Kompliment‚, mutmaßte der Herzog.
„Nein. Papas Vater war ein Wüstling und Verschwender, der sich weder um sein Land noch um seine Familie kümmerte. Schon
in jungen Jahren mußte mein Vater sich allein um die Leitung des Gutes kümmern, doch das hat ihm nichts ausgemacht. Was er seinem Vater jedoch nie vergeben hat, war die Art, wie er meine Großmutter behandelte. Er lebte ganz öffentlich mit seinen Ma- tressen in London, während seine Frau und Kinder in Wingate Hall saßen.‚
„Ich kann nicht begreifen, wie ein Mann das seiner Familie antun kann‚, sagte der Herzog kopfschüttelnd.
Das konnte Rachel auch nicht. Und was der Rücksichtslosig- keit ihres Großvaters die Krone aufsetzte, war das Kavaliershaus, das er auf dem Grundstück gebaut hatte, um bei seinen seltenen Besuchen in Yorkshire dort seine jeweilige Geliebte unterzubrin- gen. Das hatte Rachels Großmutter zutiefst gedemütigt und in ihrer Enkelin den Entschluß reifen lassen, niemals einen Mann wie ihren Großvater zu heiraten. Sie streifte den Herzog mit ei- nem scheuen Blick. „Sind Sie auch ein Wüstling?‚
„Wenn ich einer wäre‚, gab er schmunzelnd zurück, „würden Sie keine ehrliche Antwort von mir bekommen. Wüstlinge sind dafür bekannt, daß sie hübsche junge Damen grundsätzlich be- lügen.‚
Eine steile Falte erschien auf Rachels Stirn. „Heißt das, daß Sie einer sind?‚
Sein tiefes Lachen jagte ihr einen wohligen Schauer über den Rücken.
„Nein, das bin ich nicht.
Weitere Kostenlose Bücher