Marlene Suson 1
Und das ist die Wahrheit.‚ Es war sein Bruder, der das schwarze Schaf der Familie war. Nicht, daß er, Jerome, wie ein Mönch gelebt hätte. Er hatte ein paar diskrete Affären gehabt, doch er war kein notorischer Schürzenjäger. Und er hatte seine Prinzipien. Er schlief niemals mit einer verheira- teten Frau. Mit Frauen, die ihrem Ehemann Hörner aufsetzten, wollte er nichts zu tun haben. Und er hatte auch noch niemals eine Jungfrau verführt.
Das anerkennende Lächeln, das seine Worte auf Rachels Lip- pen zauberten, war eine köstliche Belohnung für ihn. Er erin- nerte sich an ihren Kuß, und heftiges Verlangen stieg in ihm auf. Am liebsten hätte er sie in die Arme genommen. Doch dann fiel sein Blick wieder auf die Ledertasche, und seine Augen wurden schmal. „Warum machen Sie eigentlich so ein Geheimnis aus dem Inhalt Ihrer Tasche?‚
„Sie müssen schwören, niemandem davon zu erzählen, vor al- lem nicht Tante Sophia. Versprechen Sie es?‚
Rachels Bitte machte die Sache nur noch geheimnisvoller. Nachdem er ihr versichert hatte, keiner Menschenseele etwas zu verraten, sagte sie: „In der Tasche sind meine Heilkräuter. Ich war bei einem unserer Pächterkinder, das hohes Fieber hat.‚
Jerome hätte nicht überraschter sein können, wenn sie ihm gestanden hätte, in der Tasche die gestohlenen Kronjuwelen zu verbergen. Die Bilder, die seine lebhafte Phantasie ihm vorge- gaukelt hatte, waren so weit von der Wahrheit entfernt, daß er das Gefühl hatte, ihr eine Abbitte schuldig zu sein. Er war sich der Tatsache bewußt, daß er sie entgeistert anstarrte, doch er konnte sich nicht helfen. Es verblüffte ihn außerordentlich, daß eine Frau wie Lady Rachel bereit war, anderen zu helfen.
Unter seinem sprachlosen Blick rutschte Rachel verlegen auf ihrem Sattel. „Sie haben versprochen, Tante Sophia nichts zu verraten‚, erinnerte sie ihn.
„Ich halte mein Wort, aber weshalb darf sie nichts davon wissen?‚
„Sie hat mir verboten, die Pächter zu behandeln.‚
„Teufel auch! Warum? Sie sollte Ihnen dafür dankbar sein.‚
„Sie behauptet, daß keine Dame von Stand sich so erniedrigen darf. Sie hält mich für den Schandfleck der Familie.‚
„Der Schandfleck ist Sophia!‚ stieß Jerome heftig hervor.
Bei dieser Reaktion malte sich Überraschung und Erleichte- rung auf Rachels Gesicht ab. „Sie meinen, ich habe Sie nicht schockiert?‚
Das hatte sie zwar, doch nicht so, wie sie glaubte. Er konnte kaum fassen, daß eine Schönheit wie sie bereit war, sich Gefahren auszusetzen, um den Kranken zu helfen. Seine Meinung von ihr verbesserte sich zusehends. „Wie haben Sie die Kräuterheilkunde erlernt?‚
„Von meiner Mutter. Und sie wiederum lernte sie von einer alten Frau aus Cambridgeshire, von wo sie stammte. Ich habe alle Rezepte von Mama übernommen. Das zur Fiebersenkung ist besonders wirkungsvoll.‚
In Rachels bemerkenswerten blauen Augen spiegelte sich der Enthusiasmus wider, mit dem sie sich ihrer Arbeit widmete. In diesem Augenblick wirkte sie so verführerisch, daß Jerome kaum widerstehen konnte. Ein Glück, daß er Wingate Hall sofort nach seiner Unterredung mit Morgan verlassen würde. Bei diesem Ge- danken zuckte er zusammen. Rachel hatte ihn so behext, daß er seine Verabredung mit Morgan völlig vergessen hatte. Deshalb
sagte er abrupt: „Ich werde jetzt noch ein bißchen die Gegend erkunden.‚
„Soll ich Sie begleiten‚, erbot Rachel sich.
„Nein!‚ So heftig hatte er die Ablehnung gar nicht hervor- stoßen wollen. Vielleicht lag es daran, daß er ihre Begleitung nur zu sehr wünschte. „Ich ziehe es vor, allein zu reiten‚, log er.
Ihr sonniges Lächeln erstarb, und Jerome begriff, daß seine scharfe Antwort ihre Gefühle verletzt hatte. Doch was sollte er tun? Er konnte sie doch nicht zu seinem Stelldichein mit dem Straßenräuber mitnehmen!
Unruhig ging Jerome in der Ruine auf und ab, während er auf Morgan wartete. Beinahe hätte er schon wieder auf seine Ta- schenuhr gesehen, dabei hatte er es erst vor fünf Minuten getan. Da war es fast halb eins gewesen.
Gentleman Jack war auf dieses Treffen nicht erpicht gewesen, doch er hatte versprochen zu kommen, und zwar vor anderthalb Stunden. Jerome wußte, daß sein Bruder sein Wort nicht brechen würde. Wieso war er dann nicht da?
Er ließ sich auf einem großen Stein nieder und wartete weiter. Er befand sich in den verwitterten Überresten einer Abtei aus dem Mittelalter, von der nur noch spärliche Mauerreste
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