Marlene Suson 1
standen. Dahinter graste Lightning friedlich.
Jeromes Ritt durch die Wingate-Ländereien war sehr aufschlu- ßreich gewesen. Er kam an Feldern vorbei, die einen ziemlich verwahrlosten Eindruck machten, und Häusern, die kaum noch als solche zu bezeichnen waren. Ihre Bewohner hatten finster und mürrisch geblickt. Jerome, selbst ein umsichtiger Landbesitzer, spürte sofort die gärende Unzufriedenheit. Wäre dies sein Land gewesen, hätte er die Ursache für diese Mißstände herausgefun- den und Abhilfe geschafft.
Er verstand, weshalb Morgan diese Ruine für ihr Treffen ausge- wählt hatte. Sie lag am äußersten Ende des Besitzes und war von dichten Wäldern umgeben, die vor neugierigen Blicken schütz- ten. Er vermutete, daß Gentleman Jack diesen Ort häufiger als Treffpunkt benutzte.
Jerome verzog unwillkürlich das Gesicht, während er über sei- nen Bruder nachdachte. Morgan war das personifizierte Parado- xon. Obwohl er einer unehrenhaften Tätigkeit nachging, tat er es aus durchaus ehrenhaften Gründen. Wegen der Ausbeutung der
Armen hatte er es auf sich genommen, die Güter dieser Welt auf seine unorthodoxe Weise etwas gerechter zu verteilen.
Deshalb suchte er sich als Opfer reiche, hartherzige Männer wie Lord Creevy und Sir Waldo Fletcher aus, die dafür bekannt waren, ihre Untergebenen unbarmherzig zu knechten. Gentleman Jack verteilte seine Beute dann unter jenen, die am meisten unter ihren Herren zu leiden hatten.
Morgan nannte es Gerechtigkeit.
Das Gesetz nannte es Verbrechen. Ein Verbrechen, auf das die Todesstrafe stand.
Jerome mußte verhindern, daß sein geliebter jüngerer Bruder Lord Morgan Parnell am Galgen endete.
Er mußte Morgan überreden, seine kriminelle Karriere aufzu- geben.
Doch das würde nicht einfach sein. Die Tätigkeit als Straßen- räuber befriedigte nicht nur den Gerechtigkeitssinn seines Bru- ders, sie stillte auch seine Abenteuerlust.
Ein wenig beneidete Jerome seinen Bruder um die Freiheit, dieser Abenteuerlust frönen zu können. Obwohl man die Parnell- Brüder gemeinhin für sehr verschieden hielt, waren sie sich ihn Wirklichkeit jedoch ziemlich ähnlich. Allerdings hatte Jerome – durch die strenge Erziehung seines Vaters, die Verantwortung eines alten, ehrwürdigen Titels und eines sehr großen Besitzes – diese Abenteuerlust nach Kräften in sich ersticken müssen.
Leichtgefallen war es ihm nicht. Deshalb hatte er es auch so genossen, die Herzogwürde vorübergehend abzustreifen und in- kognito mit Ferris über Land zu reiten. Der Inhaber der Posthal- terei, der ihn natürlich nicht erkannt hatte, hatte ganz unbefan- gen mit ihm gesprochen. Hätte er gewußt, daß Jerome der Duke of Westleigh war, wäre er ehrerbietig und zugeknöpft gewesen.
Deshalb beneidete Jerome seinen Bruder auch vor allem um die Leichtigkeit, mit der er mit Menschen jedes Schlags und Ranges umgehen konnte. Obwohl Jerome manche Leute durchaus ab- sichtlich auf Abstand hielt, gab es doch andere, mit denen er sich gern freimütig unterhalten hätte. Allerdings besaß er nicht die Gabe, das Vertrauen der Menschen zu gewinnen, so daß sie sich ihm öffneten.
Wo, zum Teufel, blieb Morgan? Jerome sprang von dem Stein auf und begann wieder, unruhig auf und ab zu gehen. Seine Be- sorgnis wuchs.
Er mußte daran denken, wie Sir Waldo Fletcher am Vorabend
damit geprahlt hatte, auf Morgan geschossen zu haben. Fletchers Treffsicherheit war von Rachel so verächtlich abgetan worden, daß Jerome sich hatte beruhigen lassen.
Aber was, wenn sie sich irrte? Wenn Morgan verletzt war? Viel- leicht sogar getötet?
Plötzlich hörte Jerome Huf schlag hinter sich. Er fuhr herum in der Hoffnung, Gentleman Jack zu sehen. Es war jedoch Ferris, der auf Thunder herbeigeritten kam.
Jerome trat aus der Ruine heraus.
„Ich habe mir Sorgen gemacht, weil Sie schon seit Stunden fort sind‚, gestand Ferris, während er absaß.
„Morgan ist noch nicht gekommen. Hast du gestern abend ir- gend etwas Interessantes in Erfahrung bringen können?‚ Jerome hatte Ferris zu einem in der Gegend sehr beliebten Wirtshaus geschickt, um sich dort ein wenig umzuhören. Auf diesem Gebiet leistete er Jerome stets unschätzbare Dienste.
„Unter den Leuten hier herrscht ziemliche Unzufriedenheit, seitdem Arlington verschwunden ist und Alfred, oder vielmehr Sophia Wingate, das Zepter schwingt‚, berichtete Ferris. „Alle hoffen und beten, daß der junge Earl möglichst bald wieder auf- taucht.‚
„Sie müssen an
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