Marlene Suson 1
zumindest versuchen. „Sehen Sie, Gentleman Jack ist ein moderner Robin Hood, der die Reichen beraubt, um den Armen zu helfen. Der Pöbel, wie Sir Waldo sich ausdrückte, liebt den Straßenräuber, weil nur er allein ihnen hilft, wenn sie bittere Not leiden.‚
Sophia musterte Rachel voller Abscheu. „Ich fürchte, Euer Gnaden, meine Nichte weiß nicht, wovon sie redet.‚
„Ich weiß sehr wohl, wovon ich rede. Jeder einzelne dieses so- genannten Pöbels wird dir versichern, daß Gentleman Jack sich sehr viel nobler verhält als einige der hier Anwesenden.‚ Rachels Blick heftete sich erst auf Sophia und dann auf Sir Waldo, der gerade sein viertes Glas Wein leerte.
Er maß sie mit einem mordlustigen Blick. Seine Hand zit- terte nicht mehr, und sein Gesicht war wieder so rosig wie im- mer. Rachels Vater hatte einmal sehr treffend bemerkt, daß Sir Waldo zu den Männern gehörte, die ihren Mut im Weinglas fanden.
„Ich kann Ihnen verraten, daß Gentleman Jack diesmal nicht ungeschoren davongekommen ist‚, trompete Fletcher mit bereits etwas schwerer Zunge. „Hatte eine Pistole unterm Sitz versteckt, und es ist mir gelungen, einen Schuß auf ihn abzugeben, als er sich davonmachte. Ich bin absolut sicher, daß ich den Strolch getroffen habe.‚
Mit seiner vollmundigen Behauptung erntete er leises Kichern von Squire Archer, Mr. Paxton und Toby, die so gut wie Rachel wußten, was für ein armseliger Schütze Sir Waldo war. Rachel war nicht im geringsten besorgt, daß der Aufschneider Gentle- man Jack tatsächlich getroffen haben könnte.
Der Herzog neben ihr fragte Fletcher sonderbar alarmiert: „Sind Sie wirklich sicher?‚
Sir Waldo streifte Westleigh mit einem verächtlichen Blick.
„Natürlich bin ich das, Sie junger Tropf‚, schnappte er. „Ich bin ein erfahrener Schütze.‚
Rachel spürte fast körperlich die Eiseskälte, die plötzlich von dem Herzog ausging. „Für Sie bin ich immer noch Euer Gnaden‚, sagte er frostig.
Sir Waldo brach fast zusammen, als er begriff, daß der Gast, den er gerade so despektierlich angeblafft hatte, der Duke of Westleigh war. Dabei hatte er doch einen denkbar guten Ein-
druck auf den Herzog machen wollen! Er stammelte eine Flut unzusammenhängender Entschuldigungen.
Westleigh fixierte ihn mit so eisiger Ablehnung, daß die Stimme des Baronets mitten im Satz erstarb. Man sah ihm an, daß er am liebsten im Boden versunken wäre. Sein verzweifelter Gesichts- ausdruck wirkte so komisch, daß Rachel ein unterdrücktes Ki- chern entfuhr.
Der Herzog fuhr herum, und er sah sie so feindselig an, daß sie erschrak. Mit so leiser Stimme, daß nur sie ihn hören konnte, fragte er: „Was finden Sie dermaßen erheiternd daran, daß auf einen Mann geschossen wird, und sei es auch nur ein Straßen- räuber?‚
„Aber nicht doch‚, flüsterte sie, bestrebt, den Irrtum aufzuklä- ren. „Ich mußte nur lachen, weil dieser Dummkopf den Duke of Westleigh beeindrucken wollte und dabei so ins Fettnäpfchen ge- treten ist. Keinen Augenblick glaube ich, daß er Gentleman Jack getroffen hat. Er ist der größte Schlumpschütze in Yorkshire.‚
„Sind Sie dessen sicher?‚ fragte Westleigh drängend.
„O ja. Sir Waldo trifft auf zehn Schritte kein Scheunentor.‚
Ihre Versicherung zauberte einen Ausdruck namenloser Er- leichterung auf des Herzogs Gesicht. Im selben Augenblick jedoch griff eine eiskalte Hand nach ihrem Herzen.
Was, wenn sie sich irrte? Wenn Sir Waldo Gentleman Jack tat- sächlich getroffen hatte?
6. KAPITEL
Jerome zog den wollenen Reitmantel enger um sich und war froh, daß er so warm war. Das Wetter war über Nacht umgeschlagen. Ein heftiger Sturm hatte Regen gebracht, und auch jetzt noch blies ein rauher Wind aus dem Norden.
Er war früh aufgewacht, nachdem er von strahlenden blauen Augen und einem Grübchenlächeln geträumt hatte, das jeden Mann um den Verstand bringen konnte. Um seinen Kopf zu klä- ren, hatte er sich zu einem frühen Morgenritt entschlossen.
Doch selbst nach einem ausgiebigen Galopp spukte Rachel noch immer in seinem Kopf herum. Eigentlich hatte er sie gestern abend ignorieren wollen. Als ihm das nicht gelungen war, hatte er sich eingeredet, er habe nur Sophia ärgern und ihrer Gesellschaft entkommen wollen. In Wirklichkeit aber wußte er es besser: Er hatte Rachels Nähe gesucht.
Wider Willen mußte er lächeln, als er sich daran erinnerte, wie leidenschaftlich sie erst seinen Kuß erwidert hatte und dann vor Schreck und
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